„Wehenschreibung“ und „Babyfernsehen“ in 3D wurden bei Schwangeren viel häufiger angeboten. Eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter 1.300 werdenden Müttern beklagt, dass im Schwangerschaftsverlauf deutlich mehr Vorsorge-Untersuchungen in Anspruch genommen werden, als es die Mutterschafts-Richtlinien vorschreiben.
Doch ist die Umfrage der Bertelsmann-Stiftung überhaupt repräsentativ, qualitätsgesichert und evidenzbasiert?
Im „Editorial“ werden die sich selbst erfüllenden Zielvorgaben bereits genannt: „Medizin-technische Entwicklungen haben die Gesundheitsversorgung in Deutschland vorangebracht. Auch die Schwangerenvorsorge konnte von dieser Entwicklung profitieren, sodass die Geburt für Mutter und Kind sicherer geworden ist. Schwangerschaft ist keine Krankheit. Doch sobald eine schwangere Frau die Schwelle einer gynäkologischen Praxis übertritt, wird sie zur Patientin. So enthalten die Mutterschafts-Richtlinien (MSR) schon bei gesunden Schwangeren im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen über 100 Tests. Hinzu kommen weitere Untersuchungsangebote, die die Schwangeren selbst bezahlen müssen. In keinem anderen Land Europas werden so viele Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft durchgeführt wie in Deutschland [...].“
Die beiden genannten Gesundheitsmonitor-3/2015-Autorinnen dieser Studie über Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft, gefördert von der Bertelsmann-Stiftung, sind Frau Prof. Dr. phil. Petra Kolip (Universität Bielefeld) und Frau Prof. Dr. rer. medic. Rainhild Schäfers (Hochschule für Gesundheit, Bochum).
In ihrer Originalpublikation https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/17_Gesundheitsmonitor/Newsletter_Ueberversorgung_in_der_Schwangerschaft_20150727.pdf werden Petra Kolip als Professorin für Prävention und Gesundheitsförderung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Uni Bielefeld (Studium Psychologie und Pädagogik in Bielefeld, Aufbau des Studiengangs Public Health an der TU Berlin, Abteilungsleitung am Institut für Sozialmedizin und Prävention der Uni Zürich, Professur an der Uni Bremen Fachbereich Gesundheitswissenschaften, Arbeitsschwerpunkte Frauengesundheitsforschung, Jugendgesundheitsforschung, Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung) und Rainhild Schäfers als Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit, Bochum (Hebammenausbildung, Studium der Pflegewissenschaften und Hebammenforschung, Promotion 2011 an der Uni Osnabrück zum Thema „Subjektive Gesundheitseinschätzungen von Frauen nach der Geburt ihres Kindes“) vorgestellt.
Die dritte angegebene Co-Autorin, Frau Dr. med. Claudia Schumann, Frauenärztin und Psychotherapeutin (Studium Humanmedizin, Promotion (1975), Weiterbildung zur Frauenärztin 1976-1982, Zusatz-Weiterbildung Psychotherapie, 1982 bis 1987 Beratungsärztin Pro Familia Göttingen, ab 1987 Praxis für psychosomatische Frauenheilkunde in Northeim) taucht im Intro allerdings nicht auf.
Dabei wird von den Autorinnen übersehen, dass bereits der Gesetzgeber mit Arbeitsschutz, Untersuchungsvorgaben der Mutterschafts-Richtlinien, Arbeitsverboten, Vorsorge-Richtlinien massiv in jede, auch physiologisch ablaufende Schwangerschaft, eingreift und damit alle Schwangeren zu Objekten von Krankenversicherungen, egal ob GKV oder PKV, macht.
Ein weiteres Problem kommt hinzu. § 12 im 5. Sozialgesetzbuch (SGB V) legt im „Wirtschaftlichkeitsgebot“ fest: „(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. (2) Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag [...].“
Diese äußerst restriktiven Leistungsausschlüsse bzw. die Pauschalierung ambulanter und stationärer Leistungen auf einen Festbetrag brechen sich in den bio-psycho-sozial immer weiter entwickelten Erwartungs-, Versorgungs- und Anspruchshaltungen gerade bei Schwangerschaft und Geburtsvorbereitung. Sie werden weder von Krankenkassen, Wissenschaft, Gesundheitssystem-Forschung, Medien, und Öffentlichkeit kommuniziert. Die Schwangere mutiert also nicht, wie die Studien-Autorinnen empirisch gar nicht erst belegen wollten, mit Betreten der gynäkologischen Praxis zur Patientin, sondern sie ist bereits ein öffentlich identifiziertes Objekt (Meldepflicht beim Arbeitgeber, Mutterschafts-Richtlinien, Screening auf Gestationsdiabetes) potenzieller Krankheits-, Schonungs- und Schutzbedürftigkeit.
Schwangere und ihre Partner haben verständlicherweise ein hohes Sicherheits- und Präventionsbewusstsein. Zahllose Mitarbeiterinnen von Gymnastik- und Geburtsvorbereitungskursen, Innenausstatter, Fachhändler, aber auch Frauenärztinnen und -ärzte wissen davon ein Lied zu singen. Während viele dieser Aktivitäten die präpartale Mutter-Kind-Interaktion und auch die der Väter fördern können, ist es den Bertelsmann-Studien-Autorinnen aber gar nicht recht, wenn dies bei niedergelassenen Fachärzten stattfindet. Dann wird es zum „Geschäft mit der Krankheit“, zur „Angst- und Panikmache“ bzw. zur pathologisierenden Krankheits- und Gesundheitsethik umfunktioniert.
In dem man geburtshilfliche Praxen und ihre Mitarbeiter/-innen bzw. Kliniken und Ambulanzen bei einer rein retrospektiv-subjektiven Patientinnen-Befragung (Partner wurden erst gar nicht erwähnt) systematisch ausklammert und deren Motivation und Arbeitsauftrag ausblendet, kommt man viel näher an ein bereits vorher fertig konzipiertes Untersuchungsergebnis von der angeblichen Pathologisierung bzw. Ökonomisierung von vorgeblich rein natürlichen, gesund und unkompliziert ablaufenden, menschlichen Fortpflanzungsvorgängen.
Der Vergleich in Europa hinkt gewaltig: Gerade Länder mit öffentlicher Gesundheits- und Krankheitsversorgung wie Skandinavien oder Großbritannien haben ein extensives Parallelsystem von z. T. unkontrollierbaren Privatangeboten in Klinik und Praxis. Schwangere können selbst bei geringfügigen Beschwerden und Missempfindungen zusätzlich jederzeit staatliche ambulante und/oder stationäre Einrichtungen in Anspruch nehmen, wo im Rahmen genereller Untersuchung/Diagnostik auch rein präventive Techniken (Labor, Ultraschall, Wehenschreibung etc.) zur Anwendung kommen. Damit relativieren sich z. B. die angeblich überhöhten Schwangeren-Sonografie-Zahlen in Deutschland.