Magenperforation - an sich, wenn flott behandelt, kein Todesurteil. Aber wenn man zwei Tage lang zu Fuß zum Krankenhaus laufen muss?
Die schlanke, knapp vierzigjährige Lucy stellt sich mit Bauchschmerzen vor. Zwei Tage zuvor habe es plötzlich angefangen, es sei nicht besser geworden, nein, eher schlimmer. Der Weg war weit. Ich untersuche den Bauch, spüre die Anspannung über dem gesamten Leib, aber es scheint, dass im Bereich des Magens der Haupt-Schmerzpunkt liegen könnte. Ab in den OP - wenn es sich um eine Magenperforation handelt, gibt es eine Heilungschance. Lucy hat acht Kinder geboren, fünf davon sind noch am Leben. Das Kleinste ist bereits sechs Jahre alt, so hat sie die Kinder bei der Familie lassen können und hat sich zusammen mit ihrer Schwester auf die Reise gemacht. Ruhig wirkt sie, und voller Hoffnung, dass wir ihr helfen können.
Ich beginne mit einem Oberbauch-Längsschnitt, und schnell bestätigt sich die Diagnose, es ist tatsächlich ein zwei Zentimeter großes Loch im Magen, aber der ätzende Magensaft ist schon zu lange in den Bauchraum geflossen, die Patientin hat bereits eine generalisierte Bauchfellentzündung, der gesamte Darm ist zu einem einzigen Block verklebt, das große Netz nicht mehr abgrenzbar, das gesamte sichtbare Gewebe hochgradig verletzlich. Ich versuche, so schonend und gleichzeitig effektiv wie möglich das Loch zu verschließen, aber auch die Magenwand ist brüchig, ein festeres Anziehen der Nähte zerschneidet bereits das Gewebe.
Vorsichtig, mit zwei Nahtreihen gelingt schließlich die Abdichtung. Der nächste Schritt ist die ausgiebige Spülung des Bauchraums, auch diese im übertragenen Sinne mit Samthandschuhen, damit der hoch vulnerable Darm nicht verletzt wird und im Stillen frage ich mich, ob Lucy diesen Befund wohl überleben kann. Selbst das den Bauchraum auskleidende äußere Bauchfell ist hochgradig entzündlich verändert, und wird die Faszie halten? Lucy wird zurück auf die Station gebracht, ihr allgemeiner Zustand ist reduziert, aber nicht schlecht. Noch ist es nicht gut, denke ich.
Am nächsten Morgen ist Lucy wach und fühlt sich nicht schlecht. Sie bedankt sich bei der Visite für die Operation und fragt, ob sie etwas trinken darf. Schluckweise nur, wenig, und wenn, dann höchstens Tee mit wenig Zucker. In einem Winkel des Spendenvorrats hat sich noch eine nicht abgelaufene Packung mit Säureblocker i.v. gefunden. Alle hoffen, vielleicht wird es doch noch gut? Am zweiten Tag geht es Lucy noch ein wenig besser. Sie fragt, ob sie etwas essen darf. Viel zu früh, denke ich.
Am dritten Tag ist der Verband plötzlich durchgeweicht. Auch aus der Drainage, die in den letzten Tagen kaum gefördert hatte, läuft nun reichlich gelbliche Flüssigkeit. Die Naht hat nicht gehalten. Noch warten, ob die Sekretion anhält? Lieber sofort hineinschauen und noch einmal versuchen, die Lecks zu verschließen? Lucy versteht die Bedenken, und auch, dass ich möglichst sofort die Magensäure aus dem Bauchraum entfernt sehen möchte. Es geht zum zweiten Mal in den OP. Tatsächlich ist die doppelte Nahtreihe an einer Stelle undicht, das Gewebe zu brüchig, fleckig und livide. Eine Socke würde man mit einem Teppich an lang angelegten Stichen flicken, die sich durchflechten. Ich versuche diese Variante, lege einige Lagen Fibrin-Klebefolie, begrenztes Spendenmaterial von einem angereisten Kollegen, auf die Nähte, spüle erneut den Bauchraum. Die Faszie ist ebenfalls an manchen Stellen brüchig, lässt sich aber noch verschließen.
Am nächsten Tag ist wieder ein wenig Zuversicht da. Lucy ist wach, möchte etwas trinken, und das Pflaster ist trocken. Die Drainage fördert nur die Reste der Spülflüssigkeit. Aber am zweiten postoperativen Tag beginnt wieder die starke Sekretion von Magensaft in die Drainage und aus der Naht heraus, das Fieber steigt, Lucy ist unruhig. Ich bin zwiegespalten. Soll ich noch einmal versuchen, das Loch abzudichten? Aber die Prognose ist schlecht, das Gewebe ist zu fragil, vermutlich wird es auch diesmal nicht halten. Eine Beatmung ist hier nicht möglich, und wir fragen uns, ob es nicht Sinn macht, auch die medikamentöse Therapie einzustellen. Nicht nur, weil die Prognose so schlecht ist, sondern auch, weil die Ressourcen begrenzt sind und vielleicht Patienten mit besseren Chancen zugute kommen sollten. Wir beschließen, nicht noch einmal zu operieren und alle Medikamente bis auf die Schmerzmittel abzusetzen und wissen, dass Lucy dann sicher sterben wird.
Auf Station bitten wir Lucys Schwester und das Pflegepersonal an das Bett der Patientin, auch der diensthabende CHO ist da, im Grunde wissen alle, dass es nicht gut aussieht. Lucy phantasiert, das Fieber ist jetzt über 40° angestiegen. Wir erklären, dass es nicht helfen würde, noch einmal zu operieren, und dass Lucy, wenn kein Wunder geschieht, sterben wird. Ihre Schwester weint, aber sie hat es schon geahnt. Ernste Gesichter, Verstehen.
Wie kann man es Lucy angenehmer machen? Die durchnässten Verbände werden noch einmal frisch gemacht, das durchgeschwitzte Laken durch ein trockenes ersetzt. Ob sich Lucy einen religiösen Beistand wünschen würde? Sie ist Muslima, keiner weiß, ob es eine Art Seelsorger gibt, den man rufen könnte. Es bleibt, anwesend zu sein, es ihr leicht zu machen, wenn sie Schmerzen äußert, die Analgetika zu erhöhen. Am Abend ist Lucy tot.
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