Ein Arbeitsunfall in Deutschland - für die BG wird penibel dokumentiert und der Patient wie ein rohes Ei behandelt. Ein Arbeitsunfall in Afrika - muss, trotz Buckeln und Schlaglöchern auf dem Behandlungsweg nicht schlechter ausgehen...
Ein junger Mann, nennen wir ihn James, wird von zwei Kollegen seiner Arbeitsstelle gebracht. Die linke Hand ist mit einem blutigen Lappen umwickelt. Die Männer erzählen, dass er mit den Fingern in eine Maschine geraten ist, der genaue Mechanismus und um welche Maschine es sich handelte, ist offenbar schwierig zu beschreiben. Nach einem Blick unter den Verband entscheide ich, dass die Wunden sofort im OP versorgt werden müssen, der 4. und 5. Finger sind zerfetzt und voller Erde.
James wirkt trotz allem ruhig, die Schmerzen scheinen durch den Schreck wie ausgeblendet. Im OP wird, nachdem der Patient schläft, zunächst einmal mit viel Wasser versucht, die rote Erde aus den Wunden heraus zu waschen. Eine große Plastikschüssel steht auf den Boden, der Anästhesie-Pfleger holt Wasser und dann wird in Ermangelung einer Dusche von oben gegossen, während ich die teilweise schon eingetrocknete Erde entferne. Dabei zeigt sich, dass Knochen und Weichteile der letzten beiden Finger so stark zersplittert und zerstört sind, dass nur die Amputation bleibt. Der dritte Finger ist gequetscht und aufgeplatzt, wird sich aber reparieren lassen und hoffentlich gut erholen. Nach der Entfernung der beiden letzten Finger und dem Adaptieren der Haut wird der Patient verbunden, erhält eine Schiene, und auf Station bastle ich mit ein paar Schnüren eine Vorrichtung, in der der Unterarm mithilfe eines Infusionsständers hoch gelagert werden kann.
Die beiden amputierten Finger, im OP in ein Tuch eingeschlagen, werden dem Bruder des Patienten gezeigt und überlassen, damit auch James, wenn er wieder wach ist, sehen kann, warum man die Weichteile nicht hat retten können. Es ist wichtig, dass gerade bei Amputationen sowohl der Patient als auch die Familie verstehen, warum man Körperteile abgenommen hat. Viele Patienten kommen nach Unfällen mit Verletzungen nicht in die Klinik, weil sie fürchten oder gehört haben, dass der weiße Doktor gerne amputiert. Dies wiederum führt dazu, dass Verletzungen unversorgt bleiben, sich infizieren und die Patienten in so schlechtem Zustand kommen, dass dann tatsächlich nur noch die Amputation möglich ist. Auch deshalb versuche ich, dem Patienten genau zu erklären, was warum gemacht wird und weiß doch, dass die afrikanischen Schlussfolgerungen, warum etwas geschah und was daraus zu folgen hat, ganz andere sein können. Trotzdem ist es auch von Seiten des einheimischen Personals in der Klinik üblich, Patienten und Angehörigen zu zeigen, was operiert worden ist. Der Bruder von James sieht sich die abgenommenen Finger an, nickt ernst.
Am nächsten Morgen bei der Visite ist James wach und gefasst, auch er hat inzwischen die abgenommenen Finger angesehen. Die Schmerzen sind erträglich, das Schmerzmittel ausreichend. Er fragt, ob er ein wenig hinausgehen kann. In den nächsten Tagen wird er viel Zeit im Garten verbringen, selbstständig seinen Arm hoch lagern und jeweils zu den Zeiten, wenn das Antibiotikum als Infusion angeordnet ist, wieder an seinem Platz sein. Am vierten postoperativen Tag steht der erste Verbandswechsel an. Am Morgen treffe ich den Patient in heller Aufregung an. Die zuständige Schwester und der Pfleger aus dem Nachtdienst liefern sich mit James ein lautstarkes Wortgefecht. Es braucht eine Weile, bis ich verstehe, worum es geht: der Pfleger aus dem Nachtdienst, der mit Patienten üblicherweise recht autoritär umgeht, hat, nachdem der venöse Zugang am Unterarm nicht mehr durchgängig war, einen neuen gelegt, diesmal in der Armbeuge, was der Patient als sehr schmerzhaft empfand. James, der genug damit zu tun hat, den Verlust der Finger zu verarbeiten und die Schmerzen an der Hand in den Griff zu bekommen, hatte sich lautstark beschwert: die Patienten in den Betten in seiner Nähe trugen ja auch ihre venösen Zugänge am Unterarm, nicht aber in der Armbeuge. Der Pfleger aus dem Nachtdienst, nicht willens, seine Autorität untergraben zu lassen, staucht den Patient verbal zusammen. Die zuständige Schwester unterstreicht die Autorität des Pflegers, nun fühlt sich James gänzlich unterlegen und machtlos. Ich versuche, das Gespräch auf einen ruhigeren Level zu bekommen, zum Glück spricht der Patient Englisch, aber das Geschrei zwischen Pflegenden und James hält noch eine Weile an. Die Schwester schimpft lautstark, dass er die Anordnungen nicht achte, der Patient ist inzwischen völlig außer sich, zittert und ist den Tränen nahe. Schlechte Voraussetzungen für einen ersten Verbandswechsel.
Zuweilen hilft ein Ortswechsel. Ich bitte den Patient in den Verbandsraum. Die Schwester, die zur Assistenz mit hinein kommt, muss versprechen, den Patient nicht anzuschreien. Dann sitzt James auf der Liege im Verbandsraum. Die große Angst vor dem, was kommen könnte, ist ihm deutlich anzusehen. Die Ärztin erklärt ihm, was sie machen möchte. „Hab keine Angst“, sage ich wie zu einem Kind, „wenn es anfängt weh zu tun, sag Bescheid, dann tun wir etwas dagegen“, denn der junge Mann wirkt in diesem Moment wirklich wie ein Kind, das einfach nur getröstet werden möchte.
Da James unbedingt den Zugang aus der Armbeuge entfernt haben will, wird das Antibiotikum für die verbleibende Zeit in Tablettenform angeordnet. Selbst die Entfernung des Pflasters über der Kanüle ist eine Kunst, weil James so große Angst hat dass er bei der geringsten Berührung bereits zusammenzuckt. Aber er sieht nun auch, dass seine Angst ernst genommen wird und die Ärztin ihr Versprechen hält, die Schmerzen gering zu halten. Der Verband der operierten Hand wird sehr vorsichtig entfernt, anklebende Kompressen mit sterilem Wasser eingeweicht, sodass sie sich leichter lösen, und schließlich ist selbst James überrascht, wie einfach es ging. Die Wunde sieht reizlos und trocken aus. Wir verbinden die Hand neu und erklären dem jetzt ruhigeren Patient noch einmal, wie wichtig es ist, die Nähte weiterhin regelmäßig zu kontrollieren.
Bei der Visite am nächsten Morgen ist James nicht aufzufinden, seine persönlichen Dinge sind verschwunden. Das Pflegepersonal berichtet, er habe sich entschuldigt für sein unhöfliches Verhalten, und alles sei gut gewesen. Ich erinnere mich an das Geschrei am Vortag und frage mich, ob der Patient nicht vielmehr vor dem autoritären Verhalten des Pflegepersonals geflüchtet ist. Wenigstens ist die Wunde so verbunden, dass der Verband ein paar Tage durchhält, das Nahtmaterial ist selbstauflösend und muss nicht gezogen werden, die Antibiose war immerhin fünf Tage lang vorhanden und der Patient ist jung und gesund und hatte auch begriffen, dass die Hand hoch gelegt werden muss. Und schließlich handelt es sich um einen Arbeitsunfall, was den Vorteil hat, dass James über seine Firma krankenversichert ist. Bereits als er gebracht wurde, fragte ein Kollege, wann er wieder arbeitsfähig sein würde.
Vielleicht, und das wäre in diesem Fall sicher gut, gäbe es ein wenig Druck von Seiten der Kollegen und außerdem den Wunsch von Seiten des Patienten, die Arbeitsstelle behalten zu können. Vielleicht geht es gut. Und manchmal tauchen auch plötzlich verschwundene Patienten wieder in der Ambulanz oder auf Station für einen Verbandswechsel auf und im besten Fall, leider nicht oft, BEVOR es so schlimm ist, dass weiter amputiert werden muss.
Eigentlich, denke ich, sollte das Pflegepersonal nicht die Patienten in die Flucht schlagen. Aber die Art der Kommunikation zwischen Schwestern und Patienten wurzelt in den kulturellen Gegebenheiten des Landes, wo die Hierarchien deutlich steiler angesiedelt sind, so wie auch zwischen Männern und Frauen oder Erwachsenen und Kindern. Nicht immer ist die Einforderung von Gehorsam so lautstark wie in diesem Fall, aber immer wieder gewöhnungsbedürftig. Obwohl – sollte man sich an Dinge gewöhnen, die veränderungsbedürftig sind, deren Veränderung aber einer Europäerin kaum möglich ist, oder zumindest nicht sofort, und wenn, dann nur in Respekt und Vorbild, wenn überhaupt, und nur in kleinen Schritten? Offene Fragen. Ich hoffe, dass die Hand gut heilt. Damit wäre ich schon zufrieden fürs erste. Kleine Ziele sind leichter zu erreichen als große.
Bildquelle (Außenseite): Daniel Novta, flickr