Viele Patienten berichten von einer Penicillinallergie. Nur in seltenen Fällen sind sie wirklich betroffen. Laut Forschern führt das zu vermehrtem Einsatz von Breitbandantibiotika. Außerdem sollen Patienten mit vermeintlicher oder echter Allergie häufiger mit gefährlichen Erregern infiziert sein.
„Penicillinallergien sind wie Laktoseintoleranzen eine Modeerscheinung“, sagt Professor Dr. Tobias Welte von der Klinik für Pneumologie an der Medizinischen Hochschule in Hannover. „Jeder Patient, der nach einer Antibiotikatherapie einen Hausschlag bekommen hat, sagt, das sei eine Penicillinallergie gewesen. Und das stimmt natürlich nicht.“ In 99 Prozent der Fälle stecke keine Allergie dahinter. Für Welte ist das mehr eine Frage der präzisen Anamnese: Wichtig sei, Kreislaufreaktionen, Zungenschwellungen oder Urtikaria abzufragen.
Eine neue Studie deutet darauf hin, dass die Anamnese nicht immer so präzise abläuft. Kimberly G. Blumenthal vom Massachusetts General Hospital Boston hat Daten von 301.399 britischen Erwachsenen ausgewertet. Sie wurden zwischen 1995 und 2015 ambulant ohne Hinweis auf multiresistente Keime behandelt. In den Patientenakten fand Blumenthal bei 64.141 Versicherten Hinweise auf eine Penicillinallergie. Hier handelt es sich um medizinische Aufzeichnungen, die häufig auf Anamnesegesprächen beruhen. Wie viele Versicherte den Wirkstoff tatsächlich nicht vertragen, bleibt vage. Die Erstautorin spricht bei 294 Personen (0,5 Prozent) von einer „unwahrscheinlichen Diagnose“, bei 6.812 (10,8 Prozent) sei dies zumindest möglich, bei 46.545 (73,6 Prozent) wahrscheinlich, bei 9.141 (14,5 Prozent) recht wahrscheinlich und bei 236 (0,4 Prozent) sicher. Differenzen ergeben sich durch fehlende Daten bzw. durch ausstehende Untersuchungen.
Mit Hilfe der medizinischen Aufzeichnungen versuchte Blumenthal, allergische Reaktionen zu quantifizieren. Lediglich bei 3.054 Personen (4,8 Prozent) seien schwere, bei 320 Personen (0,5 Prozent) sehr schwere und bei 146 (0,2 Prozent) lebensbedrohliche Reaktionen zu erwarten. 54.372 Patienten (86,0 Prozent) zeigten allenfalls moderate Symptome. Hier setzen Ärzte deutlich häufiger Makrolide (Faktor 4,15), Clindamycin (3,89) oder Fluorchinolone (2,10) ein. Zum Vergleich zog Blumenthal Daten von 237.258 Personen heran, in deren Patientenakte keine Hinweise auf Penicillin-Unverträglichkeiten zu finden waren. Nach einem Follow-up von sechs Jahren fand sie in ihrer gesamten Kohorte 1.365 Personen mit neuer MRSA-Infektion. 442 waren in der Penicillinallergie- und 923 in der Vergleichsgruppe. Clostridium difficile trat bei 442 versus 1.246 Personen auf. Die Erstautorin errechnete ein um 69 Prozent (MRSA) bzw. 26 Prozent (C. difficile) erhöhtes Risiko für die Gruppe mit vermeintlicher oder tatsächlicher Penicillinallergie. Ihr Unterschied war statistisch signifikant. Wie bewerten Experten die Resultate?
„Die Studie hat aus meiner Sicht etliche methodische Probleme“, sagt Welte. „Man weiß gar nicht, inwieweit die beiden Gruppen vergleichbar sind.“ Die Hypothese, Patienten mit Penicillinallergie, mit MRSA oder C. diff hätten eine schwerere Grunderkrankung, sei ebenfalls denkbar. „Auch die Zahl der Ereignisse ist absolut betrachtet verschwindend gering.“ Welte: „Da macht man eine Mücke zum Elefanten.“ Eigentlich sein kein Problem vorhanden. „Die Grundaussage, dass Antibiotika-Allergien überschätzt werden, teile ich aber uneingeschränkt.“