Ein freies Wochenende, in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses verbracht, kann hin und wieder die geplanten Unternehmungen durcheinander bringen...
Ein Röllchen afrikanischer Orangenkekse und die ausgeliehene Blechteekanne stehen bereit - um drei will mich Ada, die bei den Waisenkindern arbeitet (und selbst eines war) zum Tee besuchen. Ich habe versprochen, sie vor der Kirche abzuholen, damit sie den Weg in die europäische Abgeschiedenheit hinter dem hohen Zaun findet.
Pünktlich stehe ich vor der Kirche, und da sehe ich auch schon Ada, die aus einem Seitenweg kommt, allerdings nicht allein, sondern in Begleitung von zwei Frauen, von denen eine ein wenig schief, ein wenig unsicher läuft. Ob sie noch Freunde mitgebracht hat, überlege ich, aber beim Näherkommen sehe ich: die mittlere der Frauen ist an der Braunüle unschwer als Patientin zu erkennen. Unablässig sprechend, auf eine Art verkrampft, wirkt das schlanke, vielleicht 18-jährige Mädchen völlig verstört.
Endlich sind die drei auf meinen Kirchenstufen angekommen, und ich höre: Eve ist gerade Patientin auf der Inneren, seit einer Woche wegen schwerer Malaria mit Chinin behandelt, verschlechtere sich aber zusehends. Nun ist auch die Mutter da und weiß sich keinen Rat. Eve hängt mir ein Kruzifix aus gelben Perlen um und teilt mir mit, Jesus wolle uns eine Botschaft bringen, ein Geheimnis. Ungemein wichtig sei dies jetzt. Sie nimmt mich bei der Hand und zieht mich die Stufen hoch. Ihre Hand ist heiß und vibriert wie unter Strom. Gott wolle, dass sie jetzt in sein Haus komme. Die Kirchentür ist verschlossen wie immer um diese Zeit. Eve rüttelt an der Tür, schaut sich um wie eine, die verfolgt wird, wie ein gehetztes Tier. Sie müsse hinein. Ich könne die Tür öffnen.
Ich denke: erstmal beruhigen. In meinem Hinterkopf stehen die Differentialdiagnosen zur zerebralen Malaria in einer überschaubaren Schlange. Jetzt fällt Eve auf die Knie und schlägt an die Kirchentür. Ada überlegt, dass wir den Kirchenschlüssel holen könnten. Vielleicht wolle Gott sie in seinem Haus heilen? Die Mutter rät ab. Eve werde nicht wieder herauswollen. Ich versuche, einen Deal mit ihr auszuhandeln. Zuerst ins Krankenhaus, dann zurück in die Kirche? Nein. Jetzt in die Kirche. Und Gott wolle ein Wunder tun. Am Fuß der Stufen sammelt sich ein Grüppchen Kinder, die gespannt verfolgen, was sich da oben tut.
Nach einigem Hin und Her verabschiede ich mich von der Versuchung, mich nicht zuständig zu fühlen, solange Eve sich selbst und ihrem Umfeld nicht schadet, und rufe die Diensthabende an. Diese ist gerade auf Station zugange, und bittet uns, dorthin zu kommen.
Mit Engelszungen, viel Hin und Her und wieder Zurück und auch ein wenig sanfter Gewalt bewegen wir uns schließlich in Richtung Hospital. Inzwischen bewegt sich ein kleiner Zug Menschen mit uns, die alle sehen wollen, wie die Geschichte ausgeht. Endlich haben wir die Krankenhauspforte hinter uns und sind schon fast auf Station angelangt, als sich Eve aus unseren Armen herauswindet und vor der Tür der Röntgenabteilung niederkniet. Gott müsse diese Tür öffnen. Jetzt. Unbedingt. Verzweifelt rüttelt sie an der Klinke.
Wir stehen wie auf dem Präsentierteller: die Patienten auf den Stufen der gynäkologischen und der chirurgischen Abteilung, die Angehörigen, die Besucher, alle schauen gebannt dem Schauspiel zu. Ich komme mir vor wie im Freilufttheater, zumal sich nun auch Menschen in Grüppchen nähern, um genauer sehen und besser hören zu können. Wir versuchen, sie in ihr Zimmer zu bringen, Eve aber will nicht gebracht oder sonst auf irgendeine Art bestimmt werden, sie reisst sich los und läuft in die Weite des Geländes davon.
Der Wachmann und ein Pfleger kommen zu Hilfe. Eigentlich wollten wir es in Ruhe, ohne Zwang versuchen, sie davon überzeugen, dass sie ein wenig zur Ruhe kommen solle, dass sie Medikamente brauche, damit es besser werde. Ob der HIV-Status bekannt sei, fragen wir die Schwester. Ja, sagt diese, Eve sei HIV-positiv. Noch hat sie keine antiretrovirale Therapie.
Endlich ist sie mit vereinten Kräften in ihr Zimmer gebracht, das sie mit der Mutter teilt und sitzt nun ruhig auf dem Bett, aber als sie die Spritze mit dem Beruhigungsmittel sieht, springt sie wieder auf, wirft mit Kissen um sich, zerrt an meiner Hand, legt sich dann doch wieder hin, zieht das Laken über den Kopf und weint, als wir sie zu viert festhalten, um ihr das Beruhigungsmittel zu spritzen.
Welche Variante wohl in die Erinnerung des Publikums eingehen wird? Dass die weiße Frau mit der Patientin gekämpft habe oder andersherum? Was sie wohl an Ursachen und Wirkungen erdenken werden? Vermutlich keine durch ein Virus ausgelöste Gehirnentzündung.
Ada ist die ganze Zeit mitgekommen, hat mit gerungen und mit gekämpft. Als wir uns endlich zu den Tassen setzen können, ist der Tee gerade noch warm.
Bildquelle (Außenseite): Selina, flickr