Das Schöne an der Arbeit in einer Hausarztpraxis ist unter anderem, dass man nicht nur Einzelpersonen als Patienten hat, sondern oft ganze Familienclans behandelt. So bekommt man ganz andere Eindrücke über den einzelnen Patienten und über die unterschiedlichen Beziehungsgefüge und Beziehungen untereinander.
Manchmal machen im Licht dieser Beziehungskonstellationen und mit dem Wissen um die nächsten Verwandten/Partner bestimmte Symptome des Patienten viel mehr Sinn oder bekommen eine neue Bedeutung.
Gerade im Bereich der psychosomatischen Beschwerden oder der vermuteten psychosomatischen Beschwerden hilft es manchmal ungemein, wenn man das Umfeld des Patienten etwas näher kennt. Natürlich darf man nicht den Fehler machen, nur weil es ein problematisches Umfeld gibt, die Beschwerden sofort auf die psychosomatische Schiene zu schieben. Eine gründliche somatische Diagnostik steht immer an erster Stelle.
So hatte ich neulich eine Patientin bei mir, die über relativ unspezifische Symptome klagte, sich außerdem sehr gestresst fühlte, aber sich gar nicht erklären könne, woher das käme. Sie würde sich zwar um den kranken Vater kümmern, aber so schlimm wäre das ja nicht.
Da ich aber ihren Vater und seine Lebensumstände ganz gut kenne und auch den Rest der Familie, kann man durchaus sagen, dass sie in schwierigen Lebensumständen lebt. Heute beim nächsten Termin und nachdem wir die meisten somatischen Ursachen ausgeschlossen hatten, konnten wir auch ganz offen über ihre Familienverhältnisse sprechen und dabei ausarbeiten, dass ihre Symptome auch Wurzeln in ihrer Familienkonstellation haben. Es war natürlich viel leichter, einen Zugang zur Patientin zu finden, weil ich ihre Familie kannte und sie mir nicht alles erklären musste.
Interessant ist auch zu sehen, wie sich bestimmte Verhaltensweisen, Coping-Techniken und Erwartungen auch weitervererben. Das fängt schon mit kleineren Kindern an. Wenn die Eltern eher zu einer übervorsichtigen Haltung neigen und wegen noch so kleinen Beschwerden einen Arzt aufsuchen, werden auch die Kinder so geprägt und horchen auch schon als unter Zehnjährige mehr in sich hinein als andere. Wenn sie dann in die Pubertät kommen und sich eigentlich von den Eltern so weit wie möglich abnabeln wollen, behalten sie diese erlernten Verhaltensweisen meist trotzdem bei und kommen zum Beispiel wegen Mückenstichen oder einem Sonnenbrand in die Sprechstunde.
Genauso wird auch der Lebensstil der Eltern sehr oft kopiert. Nicht nur was Ernährungs- oder Sportgewohnheiten angeht, sondern auch andere Lebensentscheidungen.
So war letzte Woche ein junger Mann da, dessen Frau sich gerade von ihm getrennt hat, für ihn unverständlich, denn er hätte sie doch nur ab und zu mal betrogen und eigentlich kann er doch nichts dafür. An sich eine sehr abenteuerliche Auslegung, doch ich kenne auch seinen Vater sehr gut. Der hat ihm jahrelang nichts anderes vorgelebt. Sein Sohn hat den Lebenswandel seines Vaters zwar des Öfteren in der Vergangenheit verurteilt, offensichtlich konnte er sich aber auch nicht von den erlernten und beobachteten Verhaltensweisen nicht frei machen.
Der Apfel fällt halt oft nicht weit vom Stamm.