Die Binge-Eating-Störung wird zunehmend als eigenes Krankheitsbild anerkannt: Die Betroffenen verschlingen große Mengen an Essen und erbrechen nicht. Häufig sind sie übergewichtig. Eine Behandlung ist deshalb wichtig, auch wegen der Gefahr körperlicher Folgeerkrankungen.
Sie ist die häufigste Essstörung und gleichzeitig die am wenigsten bekannte: Die Binge-Eating-Störung. Etwa zwei bis drei Prozent der Erwachsenen leiden daran: Sie haben immer wieder Heißhungeranfälle, bei denen sie die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren, hastig essen und riesige Nahrungsmengen verschlingen. Sehr häufig leiden die Betroffenen an weiteren psychischen Problemen wie Depressionen, Ängsten, Schlafstörungen oder Missbrauch von Alkohol oder anderen Substanzen. „Im Gegensatz zu Patienten mit Bulimie ergreifen Binge Eater keine Gegenmaßnahmen, wie Erbrechen, Abführmittel einnehmen oder exzessiv Sport treiben“, erläutert Henrike Pierchalla, Psychologin beim Therapienetz Essstörung in München. Menschen mit Binge-Eating-Störung sind deshalb oft übergewichtig. Das kann zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen: Häufige Folgen sind Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Lange war Binge Eating in den internationalen Klassifikationssystemen nicht als eigenes Störungsbild aufgeführt. Die Erkrankung wurde deshalb häufig übersehen und nicht angemessen behandelt. Inzwischen wird sie aber immer mehr als eigenständige Störung anerkannt: Im DSM-V wird die Binge-Eating-Störung seit 2013 als eigenes Krankheitsbild geführt, die nächste Version der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD), die ICD-11, soll 2018 nachziehen.
Mit den Essattacken reagieren die Betroffenen auf negative Gefühle und Probleme, die sie anders nicht bewältigen können. „Das Essen dient der Ablenkung und Entspannung oder soll Bedürfnisse befriedigen, die nicht anders befriedigt werden können – es vermittelt zum Beispiel Beruhigung und Trost“, sagt Pierchalla. Auslöser der Essanfälle sind oft Stress, Ärger, Traurigkeit oder auch Langeweile. Hinterher leiden Binge Eater jedoch unter Scham- und Schuldgefühlen, Ekel und Selbstvorwürfen. Viele versuchen, die Essanfälle vor ihren Mitmenschen zu verheimlichen – auch vor engen Freunden und Familienangehörigen. Laut DSM-V müssen die Essanfälle mindestens an zwei Tagen in der Woche über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten auftreten. Zudem ist das Essverhalten auch zwischen den Essanfällen gestört: Die Betroffenen ernähren sich unregelmäßig und wechseln zwischen stark kontrolliertem und unkontrolliertem Essen. Typischerweise beginnt die Binge-Eating-Störung zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr. Auch im Alter zwischen 45 und 55 Jahren tritt sie häufig zum ersten Mal auf. Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen, ein Drittel Männer. Damit ist der Männeranteil deutlich höher als bei Anorexie oder Bulimie.
Binge Eating tritt zwar bei übergewichtigen Menschen häufiger auf als in der Gesamtbevölkerung – nämlich bei etwa vier bis neun Prozent. Allerdings neigen längst nicht alle Übergewichtigen zu Essanfällen. „Deshalb ist eine sorgfältige Abklärung sehr wichtig“, betont Pierchalla. Oft wenden sich Menschen mit Binge Eating zunächst an ihren Hausarzt – oder werden von diesem auf ihr Übergewicht angesprochen. „Allerdings denken die meisten Ärzte vor allem an die körperlichen Folgen des Übergewichts und raten ihren Patienten, abzunehmen“, sagt Pierchalla. „Viele denken nicht daran, dass dahinter eine Esstörung stecken könnte.“ Und da die Patienten sich für ihre Essattacken schämen, erwähnen sie diese oft auch nicht von selbst. „Es wäre sinnvoll, wenn Ärzte zumindest ein oder zwei Screening-Fragen stellen würden – vor allem, ob große Nahrungmengen auf einmal gegessen werden“, so die Psychologin. „Denn wird die Essstörung nicht erkannt und behandelt, ist es schwierig, das Übergewicht langfristig in den Griff zu bekommen.“ Der Arzt kann den Betroffenen dann Adressen von Beratungsstellen oder Psychotherapeuten geben. „Dort kann im ersten Schritt genauer abgeklärt werden, ob wirklich eine Binge-Eating-Störung vorliegt“, sagt Pierchalla.
Woher die Neigung zum exzessivem Essen kommt, ist bisher nicht genau bekannt. Es wird ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren angenommen: Psychische Aspekte, vor allem Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen, aber auch Ernährungsfaktoren wie vorangeganges Übergewicht oder Diäten können die Heißhungeranfälle auslösen. Oft spielen auch belastende Lebensumstände eine Rolle. Außerdem gibt es Hinweise auf biologische Faktoren, etwa eine gewisse genetische Prädisposition sowie Veränderungen im Stoffwechsel des Gehirns. So hat eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig vor Kurzem gezeigt, dass die Betroffenen auch bei alltäglichen Dingen Entscheidungsschwierigkeiten haben – und dass sich dies auch in der Gehirnaktivität widerspiegelt. Die Probanden der Studie nahmen an einem Kartenspiel teil, bei dem sie ihre Entscheidungen flexibel an neue Bedingungen anpassen mussten. „Binge-Eating-Patienten testeten immer wieder die offensichtlich schlechtere Option aus, obwohl sie es bereits anderes gelernt haben“, erläutert Andrea Reiter, die Erstautorin der Studie. Gleichzeitig waren bei den Patienten die Gehirnregionen weniger aktiv, die bei zielgerichteten Entscheidungen eine Rolle spielen oder bei Fehlern aktiv werden – und so dazu beitragen, günstige Entscheidungen zu treffen. Offenbar treffen Binge-Eating-Patienten generell ungünstigere Entscheidungen und schaffen es nicht, ihr Verhalten flexibel an neue Situationen anzupassen, folgern die Autoren – ähnlich, wie sie die negativen Folgen ihrer Essattacken kennen und es dennoch nicht schaffen, sie zu stoppen.
Je nachdem, wie schwer die Essstörung ausgeprägt ist, kann ein unterschiedliches Vorgehen sinnvoll sein. „Bei leichterer Ausprägung ist es oft ausreichend, wenn die Betroffenen an einer Ernährungsberatung teilnehmen, mehr Sport treiben und sich eventuell einer Selbsthilfegruppe anschließen“, sagt Pierchalla. Oft sind die Betroffenen aber stark emotional belastet. Dann ist eine ambulante Psychotherapie die Behandlung der Wahl. „Bei schwer ausgeprägtem Binge Eating, starkem Übergewicht oder einer starken Depression kann auch eine vorübergehende stationäre Behandlung sinnvoll sein“, so die Psychologin. Bei der Psychotherapie haben sich die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonelle Therapie als wirksam erwiesen. Das Vorgehen ähnelt dem bei der Bulimie. Unterstützend werden in manchen Fällen Antidepressiva, vor allem selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) eingesetzt. Sie können dazu beitragen, die Essanfälle zu reduzieren. Ziel der Psychotherapie ist zum einen die Normalisierung des Essverhaltens. „Die Patienten erfahren, wie unregelmäßiges Essen oder zeitweises Fasten zu Heißhunger führen und lernen, allmählich wieder regelmäßig zu essen“, erläutert Pierchalla. Außerdem führen sie Essprotokolle und lernen so, die Auslöser ihrer Essanfälle zu erkennen und anders mit Problemen und negativen Gefühlen umzugehen. „Bei einer Patientin traten die Essanfälle zum Beispiel oft am Mittwoch Abend auf“, berichtet die Expertin. „Ihr ist dann aufgefallen, dass das meist nach einer Teambesprechung war, die sie extrem stressig fand. In diesem Fall kann man gezielt schauen, was jemand tun kann, um Stress besser zu bewältigen.“