Teure Medikamente werden in Deutschland zum Problem. Experten schätzen, dass Kassen bald nicht mehr in der Lage sein werden, lebenswichtige Behandlungen zu erstatten. In der Onkologie sind etwa Jahrestherapiekosten von über 100.000 Euro pro Patient keine Seltenheit.
Jedes Jahr kommen rund 30 neue Medikamente in Deutschland auf den Markt – und sie werden immer teurer. Anfang Dezember haben sich rund 50 Experten in Berlin getroffen, um die Auswirkung von Arzneimittelpreisen auf den Zugang zu Medikamenten zu diskutieren und ein Manifest für ein besseres Gesundheitssystem zu formulieren. „Wir haben diese Tagung organisiert, weil wir sehen, dass teure Medikamente in Deutschland zunehmend Schwierigkeiten bereiten“, sagt Christiane Fischer. „Der Zugang vor allem zu HIV-Medikamenten ist in armen Ländern schon seit 20 Jahren ein gravierendes Problem. Doch nun kommt dieses Problem auch in Deutschland an.“ Fischer ist Ärztin und Geschäftsführerin der Initiative unbestechlicher Ärzte Mezis.
Als Beispiel führt sie Sofosbuvir an: „Durch das neue Medikament ist nun eine Heilung von Hepatitis C möglich. Die Therapie kostet pro Patient 43.500 Euro für zwölf Wochen. Nun sind hierzulande 300.000 Patienten erkrankt.“ 90 Prozent könnten durch die neue Mittel geheilt werden, so Fischer, aber die Kosten wären für das Gesundheitssystem nicht bezahlbar. Insbesondere in der Onkologie steigen die Preise: Dort sind Jahrestherapiekosten von über 100.000 Euro pro Patient keine Seltenheit, wie der TK-Vorsitzende Jens Baas bereits Anfang September erklärte.
Auch Thomas Mayer, der Arzneimittel für den GKV-Spitzenverband bewertet, hält die Preise für Medikamente für unbestreitbar zu hoch: „Krankenversicherungen werden zunehmend nicht mehr in der Lage sein, lebenswichtige Behandlungen zu erstatten.“ Der GKV-Spitzenverband, der nach der Zulassung mit den Unternehmen die Preise verhandelt, sei jedoch weitgehend machtlos, denn den Einstandspreis für die Verhandlung bestimme der Hersteller: „Einen hohen oder extrem hohen Preis nach unten zu verhandeln ist aber extrem schwierig“, so Mayer. Als einen der Gründe führt Mayer an, dass sich der Forschungsschwerpunkt von Medikamenten für Volkskrankheiten wie Hypertonie oder Diabetes auf Nischenprodukte für seltene Erkrankungen verschoben hätten. Ein Beispiel sei Ivacaftor, ein Medikament zur Behandlung von Mukoviszidose. Es koste pro Patient und Monat 25.504 Euro. „Viele neue Arzneimittel werden auch für seltene Erkrankungen im Bereich Krebs entwickelt“, so Mayer. „Die Dringlichkeit der Behandlung ist groß, und die Hersteller verlangen hohe Preise mit dem Argument, es gebe sonst nichts anderes in diesem Segment.“ Zudem spiele ihnen die Zulassungsbehörde EMA in die Hand. Sie würde neue Arzneien sehr früh zulassen, ohne dass der Nutzen tatsächlich evidenzbasiert erwiesen sei.
„In der Summe tragen diese Arzneimittel für seltene Erkrankungen insgesamt zur massiven Preissteigerung bei. Sie bekommen jeweils eine eigene Zulassung, obwohl sie sich oftmals nur in kleinen Formulierungen im Anwendungsgebiet unterscheiden und möglicherweise nicht viel anders oder vor allem besser wirken als bereits verfügbare Präparate“, erklärt Mayer. So sei die so genannte personalisierte Medizin entstanden, die für jeden Patienten eine maßgeschneiderte Therapie suggeriere. Ob sie wirklich eine nützliche und positive Wirkung habe, sei oft nicht erwiesen, sagt Mayer: „Teuer ist sie auf jeden Fall, und darin besteht das Hauptanliegen der Pharmaindustrie.“ Die Folgen sind für das Gesundheitssystem verheerend: „Die Beiträge für den Einzelnen steigen kontinuierlich“, sagt der Berliner Neurologe Thomas Lempert. „Das Geld im Gesundheitswesen kann nur einmal ausgegeben werden. Es ist solidarisch eingesammelt. Diese Mittel müssen wirtschaftlich verwendet werden, so schreibt es das Sozialgesetzbuch vor.“ Stattdessen sei das Geld an anderer Stelle knapp. In den Sprechzimmern sei die Zeit der Ärzte schlecht vergütet und deshalb zu kurz, Pflegekräfte seien unterbezahlt, Krankenhäuser sparten an Personal: „In der Kinder-Krebsstation in der Charité zum Beispiel ist das Personal nicht mehr da, um den Betrieb voll aufrecht zu erhalten, aber Geld für überteuerte Krebs-Medikamente ist jederzeit vorhanden“, so Lempert.
Eine der Möglichkeiten, den explodierenden Preisen entgegenzuwirken, ist nach Meinung der Experten die Aufhebung des Patentschutzes. Wer in Deutschland ein neues Medikament auf den Markt bringt, hat in der Regel 20 Jahre lang das Patent auf dieses Mittel - und damit ein Monopol. „Die gesetzlichen Krankenkassen geben pro Jahr für neue, innovative und damit patentgeschützte Medikamente rund 20 Milliarden Euro aus. Das sind zwei Drittel der gesamten Ausgaben für Arzneimittel“, sagt Mayer. Weltweit seien die Kosten für patentgeschützte Arzneimittel von 1996 bis 2015 um mehr als 700 Prozent gewachsen, referierte Lempert auf der Tagung. Diese Steigerung sei zustande gekommen, weil die Unternehmen ihre Spielräume über die Jahre ausgeweitet hätten: „Am Anfang mit Verweis auf ihre Forschungs- und Entwicklungskosten. Ein neues Medikament kostete erst 800 Millionen, dann eine Milliarde, inzwischen sind es 2,5 Milliarden Dollar.“ Viele Analysen zeigten aber, dass diese Rechtfertigungen der Nachprüfung nicht standhielten, so Lempert: „Man hat es nachgerechnet. Es gibt öffentlich finanzierte Pharmaforschung, die Medikamente für einen Betrag von bis zu 200 Millionen Euro oder Dollar zur Marktreife bringt.“
In Deutschland entwickeln Hersteller neue Medikamente kaum noch selbst. „Sie beobachten den Markt genau und verfolgen, was an Universitäten so weit entwickelt worden ist, dass sie es übernehmen können“, sagt der Neurologe. „Wenn die bis dahin entwickelten Mittel erfolgversprechend sind, kaufen sie sie mit geringerem Risiko, gehen die letzten Schritte bis zur Zulassung und können dann mit ziemlich großer Sicherheit hohe Gewinne erzielen.“ Vielerorts arbeiten Hersteller auch mit forschenden Hochschulen zusammen und gefährden damit die Unabhängigkeit der Wissenschaft, so die Befürchtung. In Köln etwa tobte bis August 2015 ein Rechtsstreit um die Offenlegung einer Kooperation zwischen der Universität und Bayer Healthcare. Das Oberverwaltungsgericht Münster machte schließlich die Geheimhaltung rechtskräftig. So etwas ist gängige Praxis: Schon 2011 flossen laut Statistischem Bundesamt mindestens 6,3 Milliarden Euro von privater Hand an Unis und Fachhochschulen.
Die Experten auf der Tagung fordern vor allem Offenheit: in der Preisgestaltung, in der Transparenz der Kosten für Forschung und Entwicklung und bei den Ergebnissen klinischer Studien. „Lange war es kaum möglich zu erfahren, welchen Nutzen neue Medikamente tatsächlich für die Patienten hatten. Denn wenn etwas neu oder innovativ bedeutet das ja nicht, dass es auch nützlich ist“, so Lempert. Unternehmen hätten Daten und teilweise ganze Studien zurückgehalten, wenn die Ergebnisse nicht das erwartete Ergebnis gebracht hätten, sagt er: „Jetzt ist die Offenlegung von Studiendaten auch auf europäischer Ebene beschlossen worden. Damit gelingt künftig eine Abschätzung, ob ein neues Medikament wirklich ein Zugewinn bedeutet und damit auch einen höheren Preis erzielen darf.“ Den Wortlaut des Manifests finden Sie auf: www.mezis.de