Herzglykoside modulieren das autonome Nervensystem. Lipophile Digitalisglykoside haben vorwiegend sympathomimetische Wirkungen; hydrophile Strophanthusglykoside haben ausgeprägte vagomimetische Wirkungen. Besonders deutlich ausgeprägt sind diese Effekte am Stoffwechsel des Herzens zu beobachten.
Jeden Tag schlägt das Herz eines Menschen mehr als 100.000 mal und pumpt dabei etwa 10 Tonnen Blut durch den Körper. Eine solch außergewöhnliche Leistung erfordert eine kontinuierliche Zufuhr von Energie. Diese wird bereitgestellt durch Synthese und Hydrolyse von Adenosintriphosphat (ATP). Pro Tag werden etwa 6 kg ATP im Herzen hergestellt und verbraucht. Als Energiesubstrate dienen vor allem Fette (60 – 80%) und Glukose (20%), in geringen Mengen werden auch Ketone (Laktat) und Aminosäuren verstoffwechselt. Sowohl bei der Herstellung als auch beim Verbrauch von ATP werden Protonen erzeugt. Diese werden in den Mitochondrien der Herzzelle mit Sauerstoff zu Wasser umgesetzt, wobei ebenfalls ATP entsteht. Die oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien ist ein wesentlicher Teil der ATP-Produktion.
Als Ursache für Ischämie-induzierte Herzerkrankungen (Angina pectoris, Koronare Herzkrankheit, akutes Koronarsyndrom) gilt heute ein Ungleichgewicht zwischen myokardialer Sauerstoffversorgung und myokardialem Sauerstoffbedarf. Ist die Sauerstoffzufuhr nicht gewährleistet, so können die im Stoffwechsel entstehenden Protonen in den Mitochondrien nicht verbraucht werden, es kommt zur Übersäuerung in deren Folge die Zellen absterben.
Die klassische Grundidee bei ischämischen Herzkrankheiten, dass diese im Wesentlichen aus einem Defizit in der Sauerstoffversorgung des Herzens herrühren, suggeriert also, dass das Herz auf Sauerstoffzufuhr angewiesen ist. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass das Herz nicht nur Minuten, sondern Stunden und Tage mit nur begrenzter Sauerstoffzufuhr überleben kann. Bereits 1966 hat Hochrein an Meerschweinchen Herz-Lungen-Präparaten gezeigt, dass Herzen auch bei vollständiger Abwesenheit von Sauerstoffzufuhr überleben können. Durch Infusion von Glukose, Insulin und Kaliumsalzen gelang es, durch Stickstoffbeatmung induzierte hypoxische Herzinsuffizienz und Atemstillstand trotz fortwährender Stickstoffbeatmung zu beheben [1]. 1992 berichteten Webster und Mitarbeiter, dass Herzmuskelzellen in-vitro unter Ausschluss von Sauerstoff eine Woche lebens- und kontraktionsfähig bleiben, wenn Glukose kontinuierlich zugeführt und der extrazelluläre pH im physiologischen Bereich gehalten wird [2]. Diese Experimente zeigen, dass nicht der Sauerstoffmangel zum Absterben der Herzmuskelzellen führt. Energiemangel und Übersäuerung verursachen den Tod der Herzzellen.
Um unter Sauerstoffmangel lebensfähig bleiben zu können, müssen die Zellen kontinuierlich mit Glukose versorgt werden, aus der über anaerobe Glykolyse ausreichend ATP erzeugt werden kann. Darüber hinaus muss sicher gestellt sein, dass die dabei entstehende Säure abgeführt wird. Wenn diese Bedingungen nicht vollständig erfüllt werden, kommt es zum Azidose-bedingten Zelltod. Azidose verursacht auch die bei Angina pectoris häufig beobachteten Brustschmerzen. Spezifische säureempfindliche Ionenkanäle lösen den anginoiden Brustschmerz aus [3].
Der Herzinsuffizienz liegt eine Störung des autonomen Nervensystems zu Grunde. Bei Patienten mit Herzinsuffizienz ist der Vagustonus reduziert, während der Sympathikustonus erhöht ist. Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen wie Übergewicht, Bluthochdruck und Rauchen sind alle durch erhöhte sympathische Aktivierung gekennzeichnet. Auch bei Depressionen, Angstzuständen, sozialer Isolation und chronischem Stress wird ein erhöhter Sympathikustonus beobachtet. Der Grad der sympathischen Aktivierung ist eine wichtige und unabhängige Determinante bei der Prognose von myokardialen und zerebralen Erkrankungen [4]. Katecholamine sind die Neurotransmitter des sympathischen Nervensystems. Bei Herzinsuffizienz-Patienten korrelieren erhöhte Plasma Katecholaminspiegel eng mit einer erhöhten Sterblichkeit.
In niedriger Konzentration führen Katecholamine zu vorteilhaften Effekten für die Herztätigkeit (u. a. positiv inotrope Wirkung). Hohe Konzentrationen von Katecholaminen hingegen schädigen bei chronischer Einwirkung das Herz. Sie erhöhen den Sauerstoffbedarf und beschleunigen die aerobe Glykolyse, welche zu überschüssigen Protonen führt. Sie stimulieren die Lipolyse von Triglyceriden und setzen damit Fettsäuren und weitere Protonen frei. Katecholamine bewirken eine Störung der oxidativen Phosphorylierung in den Mitochondrien. In Summe führt ein exzessiver Sympathikustonus über hohe Katecholaminkonzentrationen zur Anhäufung von Protonen und damit zu Azidose-induziertem Zelltod.
Ein Ungleichgewicht zwischen myokardialer Energieversorgung und myokardialem Energiebedarf kann also auch durch exzessive adrenerge Stimulation des Herzens herbeigeführt werden. Es gilt heute als wissenschaftlich gesichert, dass bei Herzerkrankungen der Myokardstoffwechsel gestört ist. Offensichtlich ist es nicht eine begrenzte Verfügbarkeit von Nährstoffen oder Sauerstoff, sondern die Beeinträchtigung der Fähigkeit, die verfügbaren Substrate und Sauerstoff zu verarbeiten, welche zu Herzinsuffizienz führt.
Bei Versagen des durch übermäßige adrenerge Stimulation geschädigten aeroben Stoffwechsels kann das Energiedefizit nur durch anaeroben Stoffwechsel kompensiert werden. Glukose und Glykogen werden die wesentlichen Nährstoffe. Solange die durch anaeroben Stoffwechsel bereitgestellte Energie den Blutstrom auf einem ausreichenden Niveau hält, werden überschüssigen Protonen ausgewaschen und ein Azidose-induzierter Infarkt verhindert.
Wenn die Protonenkonzentrationen in der Herzmuskelzelle nicht durch oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien reguliert werden kann, greift ein alternativer Mechanismus der Protonenverwertung. Pyruvat (Brenztraubensäure) wird unter Verbrauch von Protonen zu Laktat (Milchsäure) reduziert. Die Bildung von Laktat (Milchsäure) ist also nicht, wie fälschlicher Weise in den Lehrbüchern immer noch zu lesen, die Ursache von Azidose („Laktatazidose“). Die Reduktion von Pyruvat zu Laktat verbraucht Protonen. Die Laktatbildung ist eine Schutzmaßnahme der Zelle gegen überhöhte Säureproduktion. Laktat (Milchsäure) ist ein Hinweis auf Übersäuerung, aber keine Ursache für Azidose [5].
Bei Herzinsuffizienz-Patienten ist der Laktatspiegel im Blut erhöht und kann durch Verabreichung von Strophanthusglykosiden gesenkt werden [6,7]. Ouabain verstärkt die metabolische Wirkung von Acetylcholin (dem Neurotransmitter des parasympathischen Nervensystems) und hemmt einen durch Adrenalin induzierten erhöhten Sauerstoffverbrauch [8]. Der Physiologe Hermann Rein hat an Hunden gezeigt, dass die Tiere nach Ligatur der Koronararterien durch Strophanthin Gabe „ für Stunden resistent gegen O2-Mangel geworden“ sind [9]. Bei einem durch Ligatur in Ratten- und Kaninchenherzen induzierten Myokardinfarkt sinkt der pH-Wert im Herzmuskelgewebe deutlich. Verabreichung von Ouabain erhöht den pH-Wert des sauren Herzgewebes innerhalb von wenigen Minuten um bis zu 0,5 pH-Einheiten [10].
Der Verlust von Herzmuskelzellen ist ein zentrales Merkmal von Herzerkrankungen sowohl ischämischen als auch nicht-ischämischen Ursprungs [11]. Herzmuskelzellen aus insuffizienten Herzen, aber nicht solche aus normalen Herzen, sind anfällig für Hypoxie-vermittelte Schädigungen [12]. Offenbar fehlen den insuffizienten Herzen Schutzmechanismen gegen Sauerstoffmangel, welche in normalen Herzen aktiv sind.
Ein effektiver körpereigener Schutzmechanismus wird durch die ischämische Präkonditionierung aktiviert. Wiederholtes Unterbinden von Blutzufuhr zum Herzen, jeweils gefolgt von Phasen der Wiederdurchblutung, schützt das Herz vor Schädigungen durch lang anhaltende Mangeldurchblutung (Ischämie). In diesen Schutzmechanismus sind auf molekularer Ebene verschiedene Signalkaskaden involviert. Deren Funktionen sind es, die Kalziumkanäle der Zellmembran, der Mitochondrien und der Poren des mitochondrialen Permeabilitätsübergangs zu öffnen. Hieraus resultiert eine bessere Erhaltung der Energiereserven. Auch Ouabain entfaltet seine kardioprotektiven Effekte durch Aktivierung dieser Signalkaskaden. Die Wirkung der Signalkaskaden auf die für die Energiebereitstellung wichtigen Mitochondrien bestätigt und erklärt zudem die klinischen Erfahrungen mit Strophanthin, bei denen stets eine „energetisierende“ Wirkung bei Herzpatienten beobachtet worden war.
Das Wirkprofil von Ouabain mit nur schwach ausgeprägter Inotropie und starker neurohormonaler Modulation, welche sich in einer vagomimetisch geprägten Stimulation des myokardialen Stoffwechsels offenbart, kommt dem heutigen Wunschprofil eines idealen Herzinsuffizienz Medikaments sehr nahe [13].
Literatur
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