Neue Freunde finden oder nicht? Diese Frage entscheidet ein Neurohormon, das im Gehirn auch für die Regulation von Stress verantwortlich ist. Für Therapien gegen psychiatrische Erkrankungen könnte dieser neu entdeckte Mechanismus ein Angriffspunkt sein.
Die meisten Menschen bewegen sich am liebsten in ihrem vertrauten sozialen Umfeld. Dennoch versuchen viele von ihnen auch, neue Kontakte zu knüpfen. Eine Herausforderung, die bereichernd sein kann, aber mit Stress verbunden ist. Bei Menschen mit psychiatrischen Krankheiten dagegen sind diese normalen Muster in der sozialen Interaktion mehr oder weniger stark verändert. Der Rückzug aus dem sozialen Leben ist ein typisches Zeichen, das man bei depressiven Patienten findet und das bei Autismus im Vordergrund steht. In den vergangenen Jahren konnten Forscher die Regionen im Gehirn identifizieren, die für die Ausprägung der sozialen Interaktionsmuster zuständig sind und als soziales Gehirn bezeichnet werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Amygdala, die soziale Herausforderungen bewertet und mögliche Gefahren analysiert. Was aber auf molekularer Ebene im Detail passiert, wenn eine Person abwägt, ob sie auf eine andere Person zugehen soll oder nicht, darüber besteht noch viel Unklarheit. Ein deutsch-israelisches Forscherteam konnte nun zeigen, dass ein molekularer Mechanismus, der im Gehirn von Mäusen an der Stressregulation beteiligt ist, auch deren Verhalten gegenüber Artgenossen bestimmt. Wie die Wissenschaftler um Alon Chen in einem Artikel im Fachmagazin Nature Neuroscience berichten, entscheidet das Protein Urocortin-3 (Ucn3) darüber, ob Mäuse eher den Kontakt zu fremden Mäusen suchen oder sich lieber in ihrer vertrauten Gruppe aufhalten. Ucn3 ist ein Neurohormon und bindet auf der Oberfläche von Nervenzellen an das Rezeptorprotein Crfr2. Beide Proteine kommen hauptsächlich in den Regionen des sozialen Gehirns vor und sind Bestandteile des so genannten CRF-Systems, das für die Regulation der Stressantwort zuständig ist.
Im Rahmen ihrer Studie untersuchten Chen und sein Team das Sozialverhalten der Mäuse mithilfe eines ausgeklügelten Versuchsaufbaus. Die Tiere hatten die Auswahl zwischen drei verschiedenen Gitterboxen: Sie konnten nicht nur Kontakt mit einer vertrauten oder fremden Maus aufnehmen, sondern den Kontakt auch generell vermeiden. „Mäuse sind sowohl soziale als auch neugierige Wesen. Deshalb hat es uns nicht überrascht, dass normale Mäuse die meiste Zeit mit Mäusen verbrachten, die sie noch nie getroffen hatten“, berichtet Chen, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. „Im Gegensatz zu Menschen ist bei Mäusen nicht das Sehen sondern das Riechen der wichtigste Sinn.“ Die von anderen Mäusen stammenden Geruchssignale, so Chen, würden in der medialen Amygdala bewertet und das Ergebnis dieser Analyse an andere Regionen des sozialen Gehirns weitergeleitet. Er und seine Mitarbeiter wollten dann herausfinden, was passiert, wenn man in das Wechselspiel von Crfr2 und Ucn3 eingreift. Die Forscher wiederholten deshalb den sozialen Verhaltenstest mit Mäusen, die sie zuvor mit gentechnischen Methoden behandelt hatten. Diese Tiere produzierten weniger Crfr2 in der medialen Amygdala. Das hatte dramatische Folgen, denn die veränderten Mäuse zeigten ein gänzlich anderes Sozialverhalten als normale Mäuse. Sie hatten deutlich mehr Kontakte mit vertrauten als mit fremden Mäusen und verbrachten auch mehr Zeit allein. Bei anderen Tests jedoch, bei denen nicht-soziale Aspekte im Vordergrund standen, verhielten sich die veränderten Mäuse auf ähnliche Weise wie die normalen Kontrollmäuse. In weiteren Experimenten beeinflussten Chen und sein Team das CRF-System, indem sie entweder zusätzliches Ucn3 in die mediale Amygdala der Mäuse injizierten oder dort diejenigen Neuronen gezielt stimulierten, die Ucn3 exprimieren. Die so behandelten Tiere zeigten nun ein gegensätzliches Verhalten: Sie suchten verstärkt Kontakte zu fremden Mäusen und verbrachten weniger Zeit mit bekannten Mäusen.
Mäuse leben normalerweise in größeren Gruppen und zeigen dort komplexe soziale Verhaltensmuster. Um diesen Umstand realistischer abzubilden, änderten die Forscher den bisherigen Versuchsaufbau komplett. Im neuen Experiment konnten jeweils vier Mäuse über einen Zeitraum von sechs Tagen frei in der Gruppe herumlaufen. Ihre Bewegungen wurden dabei durch Videokameras mit einem speziellen Computerprogramm aufgezeichnet und analysiert. Auf diese Weise war es möglich, die Mäuse über mehrere Tage bei verschiedenen Arten der sozialen Interaktion wie Annäherung, Kontakt, Angriff oder Verfolgung kontinuierlich zu beobachten. Die Forscher hatten die Tiere außerdem mit gentechnischen Methoden so verändert, dass sie die Aktivität der Ucn3-Neuronen in der medialen Amygdala im Verlauf des Experiments gezielt blockieren konnten. Solange die Ucn3-Neuronen normal arbeiteten, gab es nur wenige Kontakte zwischen Mäuse mit einer ähnlichen sozialen Rangstufe, dafür aber viele Kontakte zwischen dominanten und untergeordneten Mäusen. Das änderte sich schlagartig, als die Forscher zu Beginn des vierten Tages die Funktion der Ucn3-Neuronen ausschalteten. Nun überschritt die Anzahl der Kontakte zwischen sozial gleichrangigen Mäusen die der anderen Mäuse. Neue Freunde finden oder nicht? Neurohormone bestimmen mit.© Yonatan Popper „Die spezifische Manipulation von Ucn3 hat unmittelbare Auswirkungen auf das soziale Verhalten der Mäuse“, sagt Chen. „Die Aufnahme und Vermeidung von Kontakten mit anderen Mäusen hängt davon ab, wie gut das Wechselspiel von Ucn3 und Crfr2 in der medialen Amygdala funktioniert.“ Gerate das von den beiden Proteinen abhängige System außer Takt, zum Beispiel bei permanentem sozialen Stress, so Chen, würden Mäuse ängstlicher und zögen sich zurück, um sich zu schützen. Nach seiner Ansicht sind soziale Kontakte aber wichtig, da nicht nur Mäuse sondern auch Menschen sehr viel Nutzen daraus ziehen. „Mithilfe von Ucn3 und Crfr2 kalkuliert das Gehirn, mit wem man interagieren sollte und mit wem besser nicht“, erklärt Chen.
Andere Experten bewerten die neue Studie sehr positiv: „Das Besondere an den Untersuchungen von Chen und seinem Team ist, dass sie das soziale Verhalten von Mäusen in einer aus mehreren Tieren bestehenden Gruppe untersucht haben“, sagt Leonhard Schilbach, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. „Dadurch lässt sich die soziale Dynamik zwischen mehreren Mäusen erfassen und man erhält ein deutlich besseres Verständnis dafür, was soziales Verhalten unter alltagsrelevanten Bedingungen ausmacht.“ Schilbach und Chen gehen davon aus, dass sich viele der im Tiermodell gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen. Nicht nur die Regionen des sozialen Gehirns, so der Neurobiologe, seien zwischen den beiden Spezies sehr ähnlich sondern auch die daran beteiligten Moleküle. Chen: „Ein System, das soziale Interaktionsmuster ausbalanciert, könnte Menschen dabei helfen, den Stress zu kontrollieren, der auftritt, wenn sie bei den Eltern ausziehen, sich scheiden lassen oder die Arbeitsstelle wechseln wollen.“ Noch ist aber nicht bekannt, ob bei psychiatrischen Erkrankungen die Funktion von Ucn3 und Crfr2 beeinträchtigt ist.
„Wahrscheinlich haben verschiedene psychiatrischen Erkrankungen im Hinblick auf soziale Interaktionen zumindest zum Teil ähnliche neurobiologische Mechanismen, die erklären, warum die davon betroffenen Personen aus dem sozialen Rahmen fallen“, sagt Schilbach. „Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass zum Beispiel bei depressiven als auch bei schizophrenen Patienten die Regionen des sozialen Hirnnetzwerkes zu stark miteinander gekoppelt sind.“ Die Verbindungen zwischen den einzelnen Regionen, so der Psychiater, könnten nicht mehr flexibel verstärkt oder abgeschwächt werden. Das könne zur Folge haben, dass Menschen mit einer solchen Funktionseinschränkung in ihrer sozialen Wahrnehmung verändert seien und sich nicht mehr so gut in andere Menschen hineinversetzen könnten. Neurohormone wie Dopamin oder Oxytocin fördern die Aufnahme von sozialen Kontakten: „Wenn man in Kontakt mit einer anderen Personen tritt und merkt, dass sich diese für einen interessiert, fühlt sich das in der Regel angenehm an und führt dazu, dass im Gehirn die Aktivität von dopaminergen Neuronen ansteigt“, sagt Schilbach. „Wird Oxytocin verstärkt im Gehirn ausgeschüttet, begünstigt das die Interaktion mit vertrauten Menschen und dämpft die über das CRF-System vermittelte Stressreaktion.“ Erste Ergebnisse einzelner Studien weisen darauf hin, dass die Gabe von Oxytocin das Sozialverhalten von autistischen Patienten günstig beeinflusst. Auch Chen möchte zukünftig erforschen, auf welche Weise Oxytocin und das CRF-System zusammenspielen und dadurch das soziale Verhalten prägen.