Das Digitalisglykosid Digoxin wird seit mehr als 200 Jahren in der Behandlung von Herzschwäche eingesetzt. In den Leitlinien zur Behandlung von Herzinsuffizienz wird für Digitalisglykoside nur noch ein unterstützender Einsatz neben Betablockern und ACE-Hemmern empfohlen. Zwei Gruppen führender Kardiologen haben aktuell die Wirksamkeit und Einsatzmöglichkeiten von Digoxin erneut analysiert.
Aktuelle Neubewertung von Digoxin – gültig auch für Strophanthin?
Das Digitalisglykosid Digoxin wird seit mehr als 200 Jahren in der Behandlung von Herzschwäche eingesetzt. Sein Einsatz in der klinischen Praxis ist seit Einführung von Betablockern und ACE-Hemmern stark rückläufig. In den Leitlinien zur Behandlung von Herzinsuffizienz wird für Digitalisglykoside generell nur noch ein unterstützender Einsatz neben Betablockern und ACE-Hemmern empfohlen. Zwei Gruppen führender Kardiologen haben aktuell die Wirksamkeit und Einsatzmöglichkeiten von Digoxin erneut analysiert [1,2].
Zwei Befunde deuten darauf hin, dass eine Neubewertung der gegenwärtigen Rolle von Digoxin in der Therapie von Herzinsuffizienz angebracht ist. Zum einen besteht ein dringender Bedarf an wirksameren Mitteln in der Behandlung der Herzinsuffizienz. Herzinsuffizienz ist die einzige Krankheit, deren Inzidenz und Prävalenz in den meisten entwickelten Ländern stetig zunehmen [3]. Trotz moderner Behandlung mit Beta-Blockade und voller Angiotensin-II-Modulation liegt die Fünf-Jahres-Mortalität von Herzinsuffizienz bei über 50% und entspricht der von Krebserkrankungen [4]. Die Wirksamkeit der heutigen Standard-Medikation zur Behandlung der Herzinsuffizienz ist in absoluten Zahlen ausgedrückt nur um wenige Prozentpunkte besser als Placebo [5]. Zum anderen hat sich gezeigt, dass es eine starke Korrelation gibt zwischen Digoxin Serumkonzentration und der Sicherheit und der Wirksamkeit von Digoxin, welche es nahe legt, die bisher übliche Dosierung in Frage zu stellen.
Die Autorengruppen um Dirk J. van Veldhuisen, Groningen, und Mihai Gheorghiade, Chicago, kommen in ihren Auswertungen aller verfügbaren Studien zu dem Schluss, dass Digoxin das Risiko von Krankenhauseinweisungen reduziert und die Symptomatik chronischer Herzinsuffizienz verbessert. Diese positiven Wirkungen zeigen sich besonders bei Serumkonzentrationen kleiner 1ng/ml. Die Wirkungen von Digoxin bei Serumkonzentrationen größer 1ng/ml sind weniger vorteilhaft. Es wird empfohlen, den Einsatz von Digoxin mit Serumkonzentrationen kleiner 1ng/ml bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, welche trotz Behandlung mit der Standardmedikation symptomatisch bleiben, in einer klinischen Studie gezielt zu untersuchen.
Diese vorteilhaften Wirkungen des Digoxin bei niedrigen Serumkonzentrationen sind bedingt durch positive vegetative und neurohormonale Effekte. In niedriger Dosierung erhöht Digoxin den parasympathischen Tonus und verringert die Aktivität des sympathischen Nervensystems und die des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Zusätzlich zu seinen direkten sympatholytischen Effekten verbessert Digoxin bei niedrigen Dosen auch die Empfindlichkeit des Barorezeptors. Bei höheren Digoxin Serumkonzentrationen wird eine nachteilige Aktivierung des sympathischen Nervensystems beobachtet.
Die neurohormonalen Effekte der Herzglykoside sind im Prinzip lange bekannt, haben aber wegen der Fokussierung auf die inotrope Wirkung und möglichst hohe Dosierungen lange Zeit keine Beachtung gefunden. Seit Einführung der Betablocker und ACE-Hemmer in den 1980er und 1990er Jahren steht die neurohormonale Behandlung der Herzinsuffizienz im Vordergrund. Damit hat auch die Modulation des autonomen Nervensystems durch Herzglykoside wieder an Bedeutung gewonnen. Bereits in den 1970er Jahren ist beobachtet worden, dass bei lipohilen Digitalislykosiden wie Digitoxin und Digoxin in den damals üblichen hohen Dosierungen sympatomimetische Eigenschaften überwiegen. Im Gegensatz hierzu überwiegen bei den hydrophilen Strophanthusglykosiden k-Strophanthin und Ouabain (in der deutschsprachigen Literatur als g-Strophanthin bezeichnet) vagomimetischen Effekte.
Digitalisglykoside haben eine ausgeprägt positiv inotrope Wirkung. Die Modulation des autonomen Nervensystems ist nur schwach ausgeprägt. Strophanthusglykoside hingegen haben eine nur sehr schwach ausgeprägte positiv inotrope Wirkung. Es dominiert die Modulation des autonomen Nervensystems. Vagomimetische und sympathoinhibitorische Effekte bestimmen die therapeutische Wirkung. Diese Unterschiede spiegeln sich auch wider in den klinischen Erfahrungen mit diesen Substanzen. Digitalisglykoside wurden charakterisiert als „Peitsche für das hungernde Pferd“, Strophanthuspräparate („Strophanthin“) waren bekannt als „Hafer für das hungernde Herz“. In der hinlänglich bekannten sehr kontroversen Diskussion um oral verabreichtes Strophanthin in den Nachkriegsjahren sind diese gegensätzlichen Eigenschaften noch diskutiert worden als „direkte Herzwirkung“ (heute: inotrope Wirkung) und „extrakardiale Wirkung“ (heute: neurohormonale Wirkung). Vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse zu den neurohormonalen Effekten des Digoxin wäre es also durchaus wünschenswert, auf die Jahrzehnte langen Erfahrungen mit Strophanthin in der Therapie der Herzinsuffizienz zurück zu greifen. Dessen Wirkprofil mit schwacher Inotropie und starker neurohormonaler Modulation kommt dem heutigen Wunschprofil eines idealen Herzinsuffizienz Medikaments sehr nahe.
Die positiven Wirkungen des intravenös applizierten Strophanthins sind nie in Frage gestellt worden. Einzig beklagter Nachteil war die Gefahr einer Intoxikation bei zu schneller Applikation. Dieser konnte vorgebeugt werden durch Verdünnung der Strophanthinlösung mit Dextroselösung wodurch zu hohe Peak-Konzentrationen bei schneller Injektion vermieden wurden. Die orale Applikation von Strophanthin hingegen war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Die Tatsache, dass Strophanthin eine inhärent geringe Bioverfügbarkeit von nur wenigen Prozenten aufweist, hatte zu der Annahme geführt, dass mit der oralen Verabreichung keine zuverlässigen Wirkungen erzielt werden können. Bis weit in die 1970er Jahre hinein galt das Dogma, dass ein Medikament eine hohe Absorptionsrate aufweisen muss, um eine therapeutische Wirkung erzielen zu können. Das Wissen um die Bedeutung der Galenik für die Absorption von Wirkstoffen war noch gering. Das änderte sich erst mit der Einführung von generischen Digoxin-Präparaten Anfang der 1970er Jahre. Nach Ablauf des Digoxin Patents von Burroughs Wellcome brachten Generikafirmen eigene Digoxin Formulierungen auf den Markt. Diese hatten zum Teil doppelt so hohe Absorptionsraten wie das Burroughs Wellcome Produkt. Die Folge waren zahlreiche Todesfälle bedingt durch massive Überdosierungen mit den generischen Präparaten.
Nach heutigem Wissensstand ist das Dogma der absoluten Bioverfügbarkeit nicht länger haltbar. Die inhärente absolute Bioverfügbarkeit eines Wirkstoffs ist nicht von Bedeutung, einzig allein entscheidend ist, ob mit einer adäquaten galenischen Zubereitung eine für die Therapie notwendige Serumkonzentration über einen angemessenen Zeitraum erreicht werden kann. Niemand wird heute Wirkung und (die massiven!) Nebenwirkungen des Reninhemmers Aliskiren in der Behandlung von Bluthochdruck bezweifeln nur weil seine Bioverfügbarkeit kleiner drei Prozent ist. Allein entscheidend ist die mit diesem Wirkstoff erzielbare Serumskonzentration. Gleiches gilt für breit eingesetzte Wirkstoffe wie Nisoldipine (5%), Dabigatranetextilat (6.5%) oder Ramipril (15%). Diese haben absolute Bioverfügbarkeiten, welche in der Größenordnung der für Strophanthin bestimmten Absorptionsraten liegen. Für Strophanthin sind von verschiedenen Autoren Werte von 2% bis 10% ermittelt worden [6].
Die Datenbank des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information verzeichnet mehr als 20 oral zu verabreichende Strophanthin Präparate, welche nach 1950 in Deutschland eingesetzt worden sind. Von besonderer Bedeutung waren Präparate wie Strophoral, die Purostrophan Dragees, Strodival und Strophoperm. Die Tagesdosis von Strophoral betrug häufig 20 – 30 mg g-Strophanthin [7], für die Purostrophan-Dragees waren 2 - 6 mg pro Tag ausreichend [8]. Die Tagesdosis von Strophoperm lag mit 0,5 – 1 mg in der Größenordnung des iv-applizierten Strophanthin [9]. Auch diese Werte verdeutlichen eindrucksvoll den großen Einfluss der galenischen Darreichungsform auf die für die Therapie notwendige Dosis. Für oral verabreichte Strophanthinpräparate sind Serumkonzentrationen von 0,4 ng/ml bis 1 ng/ml gemessen worden [10,11]. Diese Serumkonzentrationen entsprechen den Zielwerten, welche die Autorengruppen um van Veldhuisen und Gheorghiade heute für Digoxin ansetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Neubewertung der oralen Strophanthin Therapie geboten. Alle verfügbaren Daten zeigen, dass Strophanthin in geeigneter galenischer Zubereitung oral verabreicht therapeutisch wirksam ist. Vagomimetische Effekte und eine schwach positive Inotropie charakterisieren seine Wirkung. Der unbefriedigende Therapieerfolg bei Herzinsuffizienz mit heutiger Standardmedikation gebietet es, oral verabreichtes Strophanthin in die Neubewertung der Digitalis-Präparate mit einzubeziehen.
Literaturangaben
[1] Adams KF Jr, Ghali JK, Herbert Patterson J, Stough WG, Butler J, Bauman JL, Ventura HO, Sabbah H, Mackowiak JI, van Veldhuisen DJ. A perspective on re-evaluating digoxin's role in the current management of patients with chronic systolic heart failure: targeting serum concentration to reduce hospitalization and improve safety profile. Eur J Heart Fail. 2014 May;16(5):483-493
[2] Ambrosy AP, Butler J, Ahmed A, Vaduganathan M, van Veldhuisen DJ, Colucci WS, Gheorghiade M. The use of digoxin in patients with worsening chronic heart failure: reconsidering an old drug to reduce hospital admissions. J Am Coll Cardiol. 2014 May 13;63(18):1823-1832
[3] Liu L, Eisen HJ. Epidemiology of heart failure and scope of the problem. Cardiol Clin. 2014 Feb;32(1):1-8
[4] Stewart S. Prognosis of patients with heart failure compared with common types of cancer. Heart Fail Monit. 2003;3(3):87-94
[5] Granger CB, McMurray JJ. Using measures of disease progression to determine therapeutic effect: a sirens' song. J Am Coll Cardiol. 2006 Aug 1;48(3):434-437
[6] Marchetti GV, Marzo A, De Ponti C, Scalvini A, Merlo L, Noseda V. Blood levels and tissue distribution of 3 H-ouabain administered per os. An experimental and clinical study. Arzneimittelforschung. 1971 Sep;21(9):1399-403
[7] Halhuber M, Lantscherat T, Meusburger K. Zur Strophoraltherapie. Med Klin. 1954;36:1440-1443
[8] Wiesend W, Über perorale Strophanthinbehandlung, besonders beim Altersherz. Münchener medizinische Wochenschrift, 1956; 98(26)26:900–904
[9] Altmann K, Beitrag zur peroralen Strophanthintherapie. Medizinische Klinik (Munich) 1952;47(14):446–448
[10] Greeff K, Köhler E, Strobach H, Verspohl E. Zur Pharmakokinetic des g-Strophanthin, Verh Dtsch Ges Kreislaufforsch. 1974;40:301-305
[11] Erdle HP, Schultz KD, Wetzel E, Gross F. Resorption und Ausscheidung von g- Strophanthin nach intravenöser und perlingualer Gabe. Dtsch Med Wochenschr. 1979 Jul 6;104(27):976-979