Es wird mit k e i n e m einzigen Wort erwähnt, dass in Deutschland, gleich ob Privat- oder GKV-Kassen-Versicherte, im h a u s ä r z t l i c h e n Primär-Versorgungsbereich j e d e r Akut-Patient taggleich oder binnen 24 Stunden einen Termin bekommt. Gleiches gilt für die Notfall-, Wochenend- und Nachtdienst-Versorgung in Kliniken, Krankenhaus-Ambulanzen und Bereitschaftsdienst-Praxen bzw. Fahrdiensten in Stadt und Land.
Dafür stehen private, familiäre, kulturelle, freundschaft- und gesellschaftliche Termine zurück, gehen Arzt-Ehen auseinander, leiden die Kinder und Enkelkinder, dürfen Ärztinnen und Ärzte auf Grund gesetzlicher Vorgaben n i c h t zu Gerichts-Schöffen gewählt werden: Weil es immer wieder Patienten gibt, die auf den letzten Drücker, oft mit wochen- bis monatelang aufgeschobenen Beschwerden am hausärztlichen Praxiseingang oder Privathaus klingeln, und selbst dann nicht mehr abgewiesen werden können, wenn die Sprechzeiten schon längst vorbei sind. Auch auf Partys oder Festen scheuen sich manche Zeitgenossen nicht, blitzartig Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um dermatologische Altbefunde mit Sekundäreffloreszenzen vorzuzeigen, oder Hosenbeine hochzuziehen, um angeblich von drei Fachärzten verpfuschte Krampfaderoperationen zu präsentieren. Weiterführende Untersuchungen bis zum Ganzkörperstatus werden in den weniger frequentierten Nebenräumen erwartet.
Fragen nach gesundheitsfördernden und krankheitsvermeidenden Ess-, Trink- und Lebensgewohnheiten werden mit lauter Selbstverständlichkeit gestellt, bzw. verstummen nur bei der Aufforderung, endlich mit Rauchen, Saufen und unkontrollierbarer Völlerei bei Adipositas permagna aufzuhören.
Der Vorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands Dr. med. Ulrich Weigeldt hat völlig Recht, "eine Umkehr im Denken und Handeln" zu verlangen. In einer immer älter werdenden Gesellschaft werden vor allem Hausärzte gebraucht. "Wir brauchen viel mehr Nachwuchs", betont Kollege Weigelt. Heute arbeiteten viele Hausärzte 58 Stunden und mehr pro Woche. Das sieht der hausärztliche Nachwuchs im krassen Missverhältnis zur eigentlich intendierten, positiven "work-life-balance" und unvereinbar mit Familie, Beziehungen, Freundschaften und Hobbies.
Als niedergelassene Vertrags-Ärzte arbeiten nach BÄK-Statistik (Stand 31.12.2013) nur noch 123.600 Kolleginnen und Kollegen für knapp 81 Millionen Einwohner in Deutschland. Früher waren es mehr. Zu meinem Staatsexamen 1975 an der Freien Universität Berlin und mit Beginn meiner Kliniktätigkeit in Bochum waren knapp 70 Prozent der "Kassenärzte" rein hausärztlich tätig und gut 30 Prozent Fachärzte. Zu Beginn meiner Tätigkeit als Haus- und "Vertragsarzt" 1992 arbeiteten etwa 60 Prozent primär- und 40 Prozent fachärztlich. Jetzt, im Jahr 2014, beträgt der Anteil an Fach- und Spezialärzten innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schon deutlich über 60 Prozent. Der Anteil der Hausärzte von unter 40 Prozent schwindet auf dem Land, aber auch in den Ballungszentren mit sozialen Brennpunkten und Randlagen überproportional bzw. lässt sich oft anteilig an der Gesamt-Versorgung gar nicht mehr beziffern, weil sich dort Fachärzte überhaupt nicht erst niederlassen wollen.
Die Politik, gleich welcher Couleur, hat in Sonntagsreden bisher immer Loblieder auf die guten alten Hausärztinnen und Hausärzte gesungen, die ihr "Licht n i c h t zu sehr unter den Scheffel stellen" sollten. Die GKV-Kassen waren froh, dass Primär-Ärzte die medizinische und psychosoziale Grundversorgung für geringste Quartalspauschalen auf eigenes Risiko als Selbstständige sicherstellen, mit 24-Stunden- und Wochenend-Präsenz. Doch in der Realität, von Montag bis Freitag wurde in aller Seelenruhe zugeschaut, wie die hausärztliche Profession immer weiter ausblutet: Fehlende Lehrstühle für Allgemeinmedizin, mangelhafte hausärztliche Infrastrukturen, verschärfte Basel-2-Banken-Kriterien für Praxisgründungs-Kredite auf dem Land und in sozialen Brennpunkten, keine hausärztliche Interessenvertretung in den nach Mehrheitswahlrecht Facharzt-dominierten Selbstverwaltungs-Gremien, aktiver Boykott der Hausarzt-zentrierten Versorgungsverträge (HzV) durch einige große GKV-Kassen, Gängelung der allgemeinärztlich Tätigen durch Budgetierung, Regressierung und Bürokratieexzesse, um nur einiges zu nennen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) legte zum 1. 10. 2013 einen neuen Hausarzt-EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) vor, nachdem entscheidende Beratungsziffern (HA-EBMneu GOP 03220) ersatz- und dokumentarlos gestrichen werden sollten. Bis zum 30. 6. 2014 war die 2. Beratung chronisch kranker Patienten oft mit Mehrfach-Systemerkrankungen als HA-EBMneu und GOP 03221 mit ganzen 2 Euro Praxis-U m s a t z bewertet - weitere Beratungen und Konsultationen sollten gefälligst umsonst erbracht werden! Der Umsatzbetrag nach GOP 03221 wurde jüngst zum 1. 7. 2014 von 2 auf ganze 4 Euro aufgewertet, Mehrfachinanspruchnahmen weiterhin inklusive.
So sieht die hausärztliche Realität in der Gesundheits- und Krankheitsversorgung in Deutschland derzeit aus.
Abbildung: Dreizehenmöwe Reykjavik/Iceland (als sie erfuhr, dass ein Hausarzt aus Deutschland sie fotografieren will!) © Dr. Schätzler
|