"Du bist doch Ärztin"- wenn Freunde, Bekannte, Nachbarn, Familienmitglieder, Freunde von Freunden, von der Cousine dessen Freundin der Bruder solche Sätze an mich richten, ist mein erster Impuls: Laut Nein sagen und wegrennen. Denn meist folgt auf diesen Satzanfang eine Bitte um Diagnosestellung, Krankschreibung, Ultraschall, Beratung, Untersuchung, Medikamente, Rezepte, Hausbesuche, Zweitmeinung, kleinere Operationen und und und.
Bereits im ersten Semester ging das los. Und da hatte ich wirklich noch keine Ahnung von Irgendwas, ich war gerade dabei, den Physikkurs und die Biochemievorlesung zu überleben. Meine gerade neu eingezogende Nachbarin, eine ältere Dame, hatte irgendwo gehört (wahrscheinlich von der anderen Nachbarin), dass ich Medizin studiere, also klopfte sie abends um 21.00 an meine Tür: "Sie werden doch Ärztin, ne?" "Ja?" "Hier sehen Sie, ich habe Ihnen meine Gallensteine mitgebracht! Im Glas! Toll oder? Die wollen Sie sich bestimmt mal ansehen. Und außerdem ziepts mir im rechten Knie seit 3 Tagen, da können Sie gleich mal gucken" "Äh..."
Mit jedem Semester wurde es schlimmer, und nach dem Examen war es ganz vorbei. Da wurden mir auch schon im Urlaub um 2.45 Uhr erst Bilder von einem hässlichen Ausschlag auf dem Hintern per Handy gesendet, um mich dann um 2.55 anzurufen und zu fragen, was das für ein Ausschlag sei. Das von einer Bekannten, die ich vielleicht vorher zweimal bei gemeinsamen Freunden getroffen hatte und die sich irgendwo meine Nummer besorgt hatte.
Eine andere Bekannte wollte gerne eine umfassende Beratung über künstliche Befruchtung. Auf einer Gartenparty. Abgesehen davon, dass ich von der Reproduktionsmedizin herzlich wenig Ahnung habe, weil es nicht mein Fachgebiet ist, wollte ich gern auf der Gartenparty einfach mal nur Spaß haben und nicht Privatsprechstunde halten.
Freunde und Bekannte mit Kindern rufen mich auch immer gern, wenn ihr Kind sich zum Beispiel das Knie aufgeschlagen hat, denn "die Tante ist eine Frau Doktor und macht dich ganz schnell wieder heile". Äh nein, ich bin nicht Harry Potter oder so und auch keine gute Fee, ein aufgeschürftes Knie kann auch ich nicht in 5 Minuten heilen.
Vor allem möchte ich in meiner Freizeit nicht ständig irgendwelche Krankheits- oder Leidensgeschichten anhören. Seit ich in der Praxis arbeite, ist das alles noch schlimmer geworden. Im Krankenhaus konnte ich ja leider, leider keine Kassenrezepte ausstellen oder ambulante Leistungen abrechnen. Jetzt wollen aber alle in die Praxis kommen, am besten noch außerhalb der Sprechzeiten "denn ich hab keine Zeit zu warten", oder am Wochenende. Gestern wollte die Stiefmutter des Freundes meiner Schwester mal am Samstag in der Praxis vorbeikommen, "wegen dem Blutdruck". Auf meine Frage, ob sie denn keinen Hausarzt hat, kam die Antwort: " Doch, doch, aber sie hätte gerne mal ein Zweitmeinung" Natürlich. Ich hatte Samstag auch noch nichts weiter vor. Vielleicht komme ich gleich zum Hausbesuch, dann muss sie nicht so weit fahren? Und bringe gleich noch einen Kuchen und Freirezepte mit?
Wenn ich jetzt neue Leute kennenlerne, bin ich echt vorsichtig geworden und versuche gar nicht mehr zu erzählen, was ich so genau arbeite. Es gab auch schon Menschen, die ich kennengelernt habe, wo ich auf die Frage "Was arbeitest du?" geantwortet habe: Ich bin Verwaltungsfachangestellte. Danach war dann immer Ruhe. Komisch, Hilfe von mir beim Sortieren von Akten und Anträge ausfüllen wollte noch keiner haben.
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