An Weihnachten und Silvester ist die Kussfrequenz besonders hoch. Küssen aktiviert aber nicht nur unser Belohnungssystem, es verändert auch nachhaltig die Bakterienflora des Partners. Und Vorsicht: Bei Knutschflecken lauern gesundheitliche Gefahren bis hin zum Todesfall.
Der Kuss unter dem Mistelzweig ist legendär, auch der bevorstehende Jahreswechsel ist kusstechnisch erwähnenswert. Um Punkt Mitternacht wird geknutscht, gebusselt und geschmatzt. Wer seinen Partner um Null Uhr küsst, verbringt mindestens ein weiteres Jahr mit ihm, so heißt es. Wer die Silvesterglocken ungeküsst hört, so der Mythos, wird auch das Folgejahr mit Kusskarenz bestraft. Der Kuss ist also ein Muss.
Was für Europäer und zahlreiche weitere ethnische Gruppen selbstverständlich ist, wird in anderen Kulturen gar nicht praktiziert. Anthropologen untersuchten bei 168 Ethnien auf allen Kontinenten die Kusskultur. In 77 Gruppen wird romantisch geküsst, in 91 ist diese Handlung überhaupt kein Thema. Die Forscher definierten den romantisch-innigen Kuss als einen Lippen-zu-Lippen-Kontakt, der von langer Dauer sein kann, aber nicht muss. Während in Nordamerika etwas mehr als die Hälfte der dort lebenden Kulturen diesen Kuss praktiziert, sind es in Südamerika nur vier der 21 Bevölkerungsgruppen. In Europa ist der Kuss in sieben von zehn untersuchten Kulturen Usus.
Ein Mensch verbringt im Schnitt von 70 Lebensjahren mehr als 76 Tage mit Küssen. 75 Prozent der Menschen neigen den Kopf beim Küssen nach rechts. Küssen ist eine muskuläre und nervale Herausforderung. Es werden alle 34 Gesichtsmuskeln und 112 weitere für die Haltung gebraucht. Diese und weitere Ergebnisse lieferte u.a. die Philematologin Ingelore Ebberfeld. Philematologie ist die Wissenschaft vom Küssen.
Anatomisch betrachtet ist ein Kuss nur die Berührung der oberen Enden von zwei Verdauungstrakten. In nahezu allen Wissenschaften spielt der Kuss aber eine gewisse Rolle. Mit einem Doktorkuss nimmt der Doktorvater den Doktoranden nach der Verteidigung in einen würdevollen Kreis auf. Erlösungsküsse machen aus Fröschen Prinzen. Den Ring des Papstes zu küssen ist ein Zeichen von Demut und Verehrung. Biochemisch passiert beim Küssen eine Menge: Dopamin, Serotonin, Cortisol, Oxytocin und Endorphine werden freigesetzt, die unser Belohnungssystem aktivieren.
Küssen führt aber nicht nur zum Transmittergewitter, sondern verändert nachhaltig die Bakterienflora des Partners. Der niederländische Mikrobiologe Remco Kort fand heraus, dass Küssen eine effektive Methode ist, innerhalb kürzester Zeit 80 Millionen Bakterien zu übertragen. „Intimes Küssen ist ein rein menschliches Verhalten“, sagt Kort. „Es stärkt die Bindung und führt auch dazu, dass enge Partner eine sehr ähnliche Mundflora haben.“
Einer der oral übertragenen Keime ist Streptococcus mutans. Er ist u.a. dafür verantwortlich, dass beim Küssen Karies übertragen werden kann. In einer Studie warnen Virtanen et al. davor, dass Mütter die Löffel der Säuglinge ablecken. Dies führe dazu, die Keimflora des Kindes für lange Zeit zu verändern und möglicherweise das Risiko für Karies zu fördern. Eine etwas seltsame Warnung, denn auch durch Küssen kann die Mutter ihre Keime auf das Kind übertragen und die Mundgesundheit schädigen. Und das Küssen und Schmusen zu unterlassen, ist für Mutter, Vater und Kind ja keine ernstzunehmende Option.
Kusskaries ist jedoch harmlos im Vergleich zu lebensbedrohlichen Kusstraumen. Schlaganfall, Carotisdissektion und Tod – wäre der Kuss ein Arzneimittel, müssten diese Ereignisse unter der Rubrik „Nebenwirkungen in Einzelfällen“ beschrieben werden. Ein 17-jähriger Mann verstarb wenige Stunden nach der Erzeugung eines Knutschflecks im Bereich des Trigonum caroticum. Gewebsanomalien, eine Gerinnselbildung durch das Saugtrauma, eine Verletzung der Karotis – das sind diskutierte Ursachen für den Tod. Bereits im Jahr 2010 erschien in einem medizinischen Fachjournal aus Neuseeland eine Kasuistik über einen tödlichen Knutschfleck. Es wird über den Fall einer 44-jährigen Frau berichtet, die unter ungefähr vergleichbaren Umständen einen Schlaganfall erlitt.
Es sind auch Kasuistiken dokumentiert, bei denen Küssen zu anaphylaktischen Reaktionen mit tödlichem Ausgang geführt haben. Ein Mann aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und küsste seine Freundin, die an einem allergischen Schock verstarb. Die Allergenmenge, die dazu ausgereicht hat, muss verschwindend gering gewesen sein. Der Mann hatte sich nach dem Essen die Zähne geputzt und den Mund ausgespült. Juristisch betrachtet ist hier sicherlich nicht der Kuss Schuld, sondern eher die Erdnuss.
Schluss mit Schwarzmalerei: Küssen kann auch gesund sein. Der ig-Nobelpreis für Medizin (ig steht wortspielerisch für ignoble, zu deutsch: unwürdig) ging zur Hälfte an Hajime Kimata aus Japan für mehrere Studien, die die Wirkung von intensivem Küssen bei Allergien untersuchten. 30 Patienten mit allergischer Rhinitis und dieselbe Anzahl mit atopischer Dermatitis knutschten mit ihrem Partner für eine halbe Stunde. Vorher und nachher wurden die Spiegel für Histamin, NGF (nerve growth factor), BDNF (brain-derived neurotrophic factor ), neurotrophin-3 (NT-3) und -4 (NT-4) gemessen. Zahlreiche allergene Parameter wurden durch das Küssen signifikant gesenkt. Auch die zweite Hälfte des alternativen Nobelpreises ging an Kussforscher. Eine slowakische Forschergruppe um Jaroslava Durdiakov untersuchte, wie lange männliche DNA im Mund einer Frau nachweisbar bleibt, nachdem beide sich intensiv geküsst haben. Selbst nach einer Stunde war die Fremd-DNA noch nachweisbar. Dies werteten die Forscher als bedeutsam, denn so kann auch mehrere Stunden nach einer Gewalttat der Täter noch anhand seiner DNA identifiziert werden. Inzwischen wird der ig-Nobelpreis an der Harvard-Universität in Boston verliehen. Die als „Antinobelpreis“ nicht selten diffamierte Auszeichnung ehrt Wissenschaftler, die Menschen erst zum Lachen und dann zum Nachdenken anregen. „Ein Kuss ist Mund-zu-Mund-Beatmung ohne medizinischen Anlass.“, sagte Joachim Fuchsberger. Viel Erfolg zum Jahreswechsel mit dieser medizinischen Maßnahme.