Die Symptome des Reizdarmsyndroms können den Alltag der Betroffenen stark beeinträchtigen. Die Diagnose „funktionelle Störung, für die es keine organische Ursache gibt“, ist unbefriedigend. Forscher haben nun einen Gendefekt entdeckt, der viele Symptome erklären kann.
Das Enzym Sucrase-Isomaltase ist für die Verdauung von Kohlenhydraten im menschlichen Darm unentbehrlich. Genetische Varianten des Enzyms könnten laut einer aktuellen Studie des Karolinska Instituts in Stockholm eine mögliche Ursache des Reizdarmsyndroms sein und erklären, warum sich manche Patienten besser fühlen, wenn sie sich kohlenhydratarm ernähren.
Das Reizdarmsyndrom ist weit verbreitet. In westlichen Ländern leiden 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung unter dieser Form von Magen-Darm-Beschwerden. Schätzungen zufolge machen Reizdarmpatienten bis zu 50 Prozent der Kontakte eines Gastroenterologen aus. Typisch sind Schmerzen oder Unwohlsein im Bauchraum, zusammen mit einer Veränderung in der Stuhlfrequenz und –konsistenz. Patienten mit Reizdarmsyndrom lassen sich in drei Gruppen klassifizieren:
Die Diagnose „Reizdarmsyndrom“ ist im strengen Sinn eine Ausschlussdiagnose. Sie wird dann gestellt, wenn trotz sorgfältiger Untersuchung des Patienten keine organische Ursache für bestehende abdominelle Beschwerden gefunden werden kann. Daher wird das Reizdarmsyndrom als „funktionelle Erkrankung“ bezeichnet. Für Ärzte und Patienten ist diese Diagnose oft gleichermaßen unbefriedigend. Als Auslöser der Beschwerden stehen neben Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Stress und Dysbiosen der Darmflora auch genetische Faktoren im Verdacht. Eine solche genetische Variante gibt es auch im Gen, das für das Enzym Sucrase-Isomaltase codiert.
Der menschliche Körper produziert dieses Enzym im Dünndarm und zu einem kleinen Teil im Dickdarm an der Oberfläche der Mikrovilli. Dort ist es für den Abbau von Mehrfachzuckern verantwortlich. Sehr selten fallen beide Genkopien im Zuge einer angeborenen autosomal rezessiven Störung komplett aus. Weitaus häufiger kommen Genvarianten vor, die für ein Enzym mit abgeschwächter Leistung codieren. „Mutationen im Gen für Sucrase-Isomaltase finden sich häufig bei vererbten Formen der Saccharose-Intoleranz“, so Mauro D’Amato vom Karolinska Institut in Stockholm. Arbeitet die Sucrase-Isomaltase nicht mehr in vollem Umfang, kommt es zu einer Saccharose-Intoleranz. Die Betroffenen können Saccharose dann nur noch begrenzt abbauen. Die überschüssigen Mehrfachzucker vergärt der menschliche Organismus, was zu Bauchkrämpfen, Durchfall und Erbrechen führen kann – denselben Symptomen, die Reizdarmpatienten mit häufigen Durchfällen verspüren. „Menschen mit einem Reizdarmsyndrom bringen ihre Symptome oft mit bestimmten Nahrungsmitteln, speziell mit fermentierbaren Kohlenhydraten in Verbindung“, so D’Amato weiter. „Wir haben die Hypothese getestet, dass genetische Veränderungen beim Abbau von Disacchariden – kleinen Kohlenhydraten von Zuckern und Stärke – mit einem erhöhten Risiko für ein Reizdarmsyndrom verbunden sind.“ Studienleiter Mauro D`Amato © Mauro D`Amato
Nach diesen genetischen Veränderungen suchten die Wissenschaftler um Mauro D'Amato bei sieben symptomatischen Personen aus vier verschiedenen Familien. Dazu sequenzierten sie das Sucrase-Isomaltase-Gen der Betroffenen und fanden unterschiedliche genetische Varianten des Gens vor. Bei einer dieser Varianten wird im Enzym die Aminosäure Valin durch Phenylalanin ersetzt. Als die Wissenschaftler beide Enzymvarianten in einem Zellmodell in vitro untersuchten, zeigte sich, dass die Phenylalaninvariante 35 Prozent weniger Enzymleistung aufbringen konnte als die Valin-Variante. „Der signifikante Verlust der Enzymaktivität der Sucrase-Isomaltase deckt sich mit der schlechten Kohlenhydratverdauung im Darm und führt möglicherweise zu einer Malabsorption und zu Bauchbeschwerden“, so Co-Senior-Autor Hassan Naim von der Tiermedizinischen Universität in Hannover.
Daten einer Kohortenstudie mit 1.887 Probanden aus Schweden, Italien und den USA zeigten: Patienten mit Reizdarmsyndrom tragen die 15Phe-Variante doppelt so häufig in ihrem Genom wie gesunde Kontrollpersonen. Die 15Phe-Variante war außerdem mit einem Mangel an bestimmten Darmbakterien (Parabacteroides) assoziiert, was auf eine Rolle der Darmflora für die Symptome hinweist. „Obwohl es wahrscheinlich keinen kausalen Zusammenhang zwischen diesen beiden Phänomenen gibt, könnte die negative Korrelation des 15Phe-Allels und dem Vorkommen der Parabacteroides bei der Identifizierung von Patienten mit Reizdarmsyndrom und defekter Sucrase-Isomaltase helfen“, schreiben die Wissenschaftler.
Viele Reizdarmpatienten, vor allem Patienten der Diarrhö-Gruppe, profitieren von einer sogenannten FODMAP-reduzierten Diät. FODMAP steht für „fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole“ und bezeichnet eine Gruppe von kurzkettigen Kohlenhydraten und mehrwertigen Alkoholen, die in vielen Nahrungsmitteln vorkommen und bei einigen Patienten mit einem Reizdarm Symptome verursachen. „Mit Hilfe des Sucrose-Isomaltase Status eines Patienten ließe sich diese Diät noch genauer auf die Bedürfnisse des Patienten abstimmen“, so Mauro D’Amato.
Was die Forscher in ihrer Studie zeigen konnten, ahnt die Mehrheit der Betroffenen offenbar bereits seit geraumer Zeit: 52 Prozent von 1.242 US-amerikanischen Patienten, die im Jahr 2007 einen Fragebogen zum Thema „Reizdarmsyndrom“ ausfüllten, gaben bei der Frage nach dem vermuteten Grund für ihre Beschwerden an: Das Reizdarmsyndrom wird durch einen Mangel an Verdauungsenzymen ausgelöst.
Functional variants in the sucrose – isomaltase gene associate with increased risk of irritable bowel syndrome