Die aktuelle Debatte um PSA-Bestimmung und Prostatakarzinom-Therapie wird zum Teil sehr polemisch geführt. Hintergrund ist die Entscheidung der United States Preventive Services Task Force, das PSA-Screening nicht zu empfehlen, da daraus eine Überdiagnose und Übertherapie resultieren können. Aber wie fundiert ist diese Aussage und kann man sie auf Deutschland übertragen?
"Diese Überwachungsstrategie, von der man jetzt liest, also abwarten, wäre das nichts für mich?" erkundigt sich Herr M. hoffnungsvoll. Er meint natürlich Active Surveillance.
Herr M. wird zum Zweitmeinungsgespräch in unserem Prostatakrebszentrum vorgestellt. Ich starre konsterniert auf seine Befunde: Der Patient ist 49 Jahre alt und hat keine bekannten Begleiterkrankungen. Noch vor zwei Jahren hatte sein PSA-Wert bei 2,31 ng/ml gelegen, war jedoch bereits zwölf Monate später auf 3,96 ng/ml geklettert, also immer noch im "Normbereich". Sein behandelnder Urologe hatte ihm wegen dieses rasanten, suspekten Anstiegs zur Prostatastanzbiopsie geraten, diese hatte Herr M. jedoch abgelehnt. Große Studien hätten schließlich gezeigt, dass die Hälfte aller Männer mit Prostatakrebs überdiagnostiziert sei, und außerdem sei sein PSA-Wert ja nicht erhöht. Jetzt lag der PSA bei 19,19 ng/ml, und die Biopsie hatte in 11 von 12 Gewebeproben ein kribriformes Adenokarzinom (Gleason 4+3=7) gezeigt, wobei die Stanzzylinder fast vollständig von Tumor durchsetzt waren. Bei der digitorektalen Palpation imponierte seine Prostata höckrig hart, klinisches Stadium cT3. Glücklicherweise hatten sich im Tumorstaging (Ganzkörperknochenszintigraphie und MRT des Abdomens mit Endorektalspule) keine Hinweise auf Metastasen ergeben. Sein Urologe hat ihm daher dringend zur Operation geraten, aber Herr M. zweifelt noch.
Bei der Active Surveillance wird im ersten Jahr alle drei Monate eine klinische Untersuchungen mit Abtasten der Prostata, eine rektale Ultraschalluntersuchung sowie die Bestimmung des PSA-Wertes durchgeführt. Nach zwei Jahren können die Intervalle auf sechs Monate ausgeweitet werden. Ultraschallgesteuerte Biopsien sollten bei sich verschlechternden Werten, beziehungsweise nach zwölf bis achtzehn Monaten wiederholt werden, um einen Tumorprogress feststellen zu können. Im Fall einer voranschreitenden Erkrankung oder bei entsprechendem Patientenwunsch wird dann eine radikale Prostatektomie oder Radiatio durchgeführt.
"Also ich denke nicht, Herr M.", antworte ich, "dass dies die geeignete Strategie in Ihrem Fall ist."
Im Rahmen der von den gesetzlichen Krankenkassen übernommenen Krebsfrüherkennungs-Untersuchung ist die PSA-Bestimmung nicht vorgesehen. Sie ist eine IGeL, sofern kein konkreter Verdacht auf ein Prostatakarzinom besteht. Gerade diese Tatsache, dass der Patient diese Leistung privat zahlen muss und der untersuchende Arzt gewissermaßen auch ein finanzielles Interesse daran hat, macht in Deutschland die Kritik an dieser Methode leichter.
Fakt ist, dass die United States Preventive Services Task Force (USPSTF) 2012 entschieden hat, ein PSA-Screening nicht zu empfehlen. Diese Entscheidung fußt nicht zuletzt auf dem Ergebnis der Amerikanischen PLCO Screening-Studie, die zu dem Schluss kommt, dass ein PSA-Screening die Prostatakarzinom-Mortalität nicht senkt und die Nachteile einen möglichen Nutzen übersteigen. Seltsamerweise kommt die zeitgleich veröffentlichte, ähnlich angelegte Europäische Studie der ERSPC zum gegenteiligen Ergebnis. Wie kann das sein?
Zunächst sollte man sich vielleicht einmal klar machen, was der Begriff Screening in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet: Man versteht darunter die systematische Testung einer definierten Bevölkerungsgruppe mit dem Ziel der Krankheitserkennung. Im Falle des PSA-Wertes wären dies alle Männer einer bestimmten Altersgruppe. Dies trifft auf die sogenannte Vorsorgeuntersuchung schon nicht zu, da es sich hier bereits um ein selektioniertes Patientengut handelt, nämlich diejenigen, die das Angebot der Früherkennung wahrnehmen, sei es weil sie Angst vor einer Krebserkrankung oder aber Beschwerden haben, die sie zum Arzt/Urologen führen.
Seit der Einführung des PSA-Tests hat sowohl in den USA, als auch in Deutschland die Mortalität des Prostatakarzinoms abgenommen, obwohl die Inzidenz kontinuierlich gestiegen ist. Das heißt, obwohl mehr Prostatakarzinome diagnostiziert werden, sterben weniger Männer daran. Dies liegt sicherlich daran, dass die Krebserkrankung häufig in einem Frühstadium erkannt und entsprechend therapiert wird. Ob und in welchem Ausmaß es sich hierbei um eine Übertherapie handelt, sei in diesem Zusammenhang ausgeklammert. Der in den Medien teilweise erweckte Eindruck, man könne im Prinzip jeden Prostatakrebs nur überwachen, ist auf aus heutiger Sicht genauso falsch wie die Forderung jeder müsse aggressiv – sei es mittels Operation oder Strahlentherapie – behandelt werden. Die Einschlusskriterien für eine sogenannte Active Surveillance sind jedenfalls streng gefasst und betreffen im Grunde gerade die Patienten, die alle Optionen haben. Letzlich sollte im Dialog mit dem Betroffenen eine stadiengerechte, individuelle Therapie gewählt werden, die auch das Alter und die Begleiterkrankungen berücksichtigt.
Die Amerikanische Screening-Studie weißt eine Reihe von Schwachpunkten auf: Das berichtete Follow-up von sieben bis zehn Jahren ist für einen langsam wachsenden Tumor wie das Prostatakarzinom viel zu kurz, um eine valide Aussage über karzinomspezifisches Überleben zu treffen. Bis zu 52% der Probanden in der Kontrollgruppe ließ sich außerhalb des Studienprotokolls den PSA-Wert bestimmen, so dass die Detektionsrate sehr hoch war. Gleichzeitig wurden in der Screening-Gruppe nur 85% nach Studienprotokoll getestet. Nur etwa die Hälfte der Patienten ließ sich bei entsprechender Indikation tatsächlich biopsieren. Bezüglich der Therapie gab es keine signifikanten Unterschiede. Trotzdem zeigt die Überlebenskurve nach zehn Jahren einen Vorteil der Screening-Gruppe, nur war dieser (noch?!?) nicht statistisch signifikant. Die interne und externe Validität dieser Studie darf angezweifelt werden.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich unter den Mitgliedern der USPSTF kein einziger Urologe befindet.
Auch die Europäische Studie – hier unterzogen sich 86% der Screening-Gruppe bei erhöhem PSA-Wert tatsächlich auch einer Prostatastanzbiopsie, das Follow-up betrug 14 Jahre – räumt ein, dass ein PSA-Screening mit dem Risiko der Überdiagnose behaftet ist, kommt jedoch zu dem Schluss, dass die prostatakarzinomspezifische Mortalitätsrate um 20% gesenkt werden kann. 1.410 Männer müssen getestet und 48 zusätzliche Prostatakarzinome diagnostiziert werden, um einen Todesfall zu verhindern.
Die Frage ist daher, ob dies gesundheitspolitisch gewünscht wird. Beim Mammographie-Screening, welches allgemein akzeptiert wird, müssem etwa 1.000 Frauen über zehn Jahre regelmäßig untersucht werden, um einen Todesfall durch Brustkrebs zu verhindern.
Sowohl die Deutsche S3-Leitlinie als auch die Leilinie der European Association of Urologe zum Thema Prostatakarzinom empfehlen die Bestimmung eines Ausgangs-PSA-Wertes im Alter von 40 Jahren, wobei die nächste Kontrolle bei einem Wert von <1,0 ng/ml womöglich erst nach zwei bis acht Jahren erfolgen muss. Bei asymptomatischen Männern, die älter als 75 Jahre sind, sollte der PSA-Wert nicht mehr getestet werden.
Herr M. wurde mittels retropubischer radikaler Prostatektomie operiert: Histopatholgisch zeigte sich ein Stadium pT3b pN1 (6/12) cM0 G3 (Gleason-Score: 4+4=8) Pn1 L1 V0 R1, also ein lokal fortgeschrittes und lymphogen metastasiertes Prostatakarzinom, so dass postoperativ leitlinienrecht eine adjuvante Bestrahlung der Prostataregion sowie eine Androgendeprivationstherapie eingeleitet wurden. Der Patient ist kontinent, hat aber eine erektile Dysfunktion und aufgrund der Androgendeprivation als Nebenwirkung einen Libidoverlust sowie Hitzewallungen entwickelt und 10 kg an Gewicht zugenommen. Zur Prophylaxe einer medikamenteninduzierten Osteoporose erhält er Denosumab. Insgesamt ist die Prognose bei diesem Hochrisikotumor eher schlecht.
Ob die Situation besser gewesen wäre, wenn Herr M. ein Jahr früher diagnostiziert worden wäre, darf spekuliert werden.
Literatur:
Schröder FH, Hugosson J, Roobol MJ et al. Mortality Results from a Randomized Prostate-Cancer Screening Trial. N Engl J Med 2009; 360: 1320-1328
Andriole GL, Crawford ED, Grubb RL et al. Mortality Results from a Randomized Prostate-Cancer Screening Trial. N Engl J Med 2009; 360: 1310-1319.
Salzmann P, Kerlikowske K, Phillips K: Cost-effectiveness of extending screening mammography guidelines to women age 40–49 years of age. Ann Intern Med 1997; 127: 955-965
Titelbild: © Andrea Damm / PIXELIO