Leichname sind die ersten Menschen, an denen man im Studium "arbeitet". Über die Frage, ob das noch zeitgemäß ist wird kontrovers diskutiert. Hinter den Körperspendern standen einmal lebende Personen mitsamt einer Geschichte. Doch hindert der Gedanke genau daran nicht das Lernen und Arbeiten?
Einstieg
Die Anatomie ist im Überwiegenden eines der ganz wenigen Fächer, das an fast allen Universitäten im oder – falls länger als ein Halbjahr – ab dem 1. Semester gelehrt wird.
Bei der breit gefächerten Vielfalt von Fächerkombinationen ist es keine Selbstverständlichkeit: manche Fakultäten mischen von Beginn an die Fächer bunt (z.B. Biochemie gleich ab dem ersten Tag), andere trennen fein säuberlich (erst Grundlagenfächer wie Chemie, Physik, Biologie, dann die darauf aufbauenden).
Hinzu kommen noch die inzwischen gar nicht mehr so seltenen Modell- und Reformstudiengänge.
Die Anatomie jedoch ist in der Regel von Beginn an dabei.
An vielen Lehrstätten ist es nicht unüblich, dass die Anatomen die Einführungsveranstaltung für die Erstsemester halten oder zumindest begleiten.
Zumindest noch – wie lange es so bleibt ist fraglich – veranstalten viele medizinische Fakultäten einen Präparierkurs. Dabei wird in aller Regel recht schnell zum Tagesgeschehen übergegangen: nach einer kurzen Einführung wird zumeist direkt mit dem Präparieren begonnen.
Manchmal wird gefragt, wer den ersten Schnitt ansetzen will.
In meinem Jahrgang ist dabei keinem einzigen Studenten wirklich schlecht geworden. Die Aufregung war eher situationsbedingt, der Anblick des Leichnams selbst verursachte erstaunlicherweise kaum Unwohlsein.
Hintergründe
Über die Leichname gibt es in unserer Anatomie wenig zu erfahren: die Dozenten wissen meist nichts über die Verstorbenen.
Lediglich die Präparatoren können die Unterlagen heraussuchen. Gewünscht ist das jedoch nicht. Die Nachfrage selbst wird bereits kritisch beäugt.
Je nach Leichenkeller gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen, die allesamt darauf abzielen eine gewisse Pietät zu wahren.
Das erscheint sinnvoll und notwendig.
Man versetze sich einmal selbst in die Lage seinen Körper der Wissenschaft zu überlassen.
Würde man nach dem Durchleben des Präparierkurses immernoch dazu bereit sein?
Meine eigene klare Antwort ist: nein.
Die Präparationsarbeit ist notwendig. Ich selbst könnte mir nicht vorstellen Anatomie ohne Leichname zu erlernen.
Doch selbst unter Wahrung aller Regeln der Pietät ähnelt die Arbeit oft eher der eines Metzgers: Körperteile werden mit Sägen entfernt, Knochen abgefräst und Bindegewebe kiloweise entfernt und in Tüten gesammelt.
Diese Einstellung mag zunächst nicht angemessen erscheinen.
Jedoch beantworten erfahrungsgemäß viele Mediziner (die ich befragte) sie ebenfalls mit "nein", eben weil sie wissen wie es im Präparierkurs vor sich geht.
Vor allem in den letzten Jahren hat sich da viel getan.
Die Studenten werden immer jünger, das Verhalten nimmt insgesamt an Distinguiertheit und Mäßigung ab.
Inzwischen finden sich schon Studenten im Präparierkeller, die erst 17 sind.
Ob und inwieweit das überhaupt rechtlich möglich ist, muss noch geklärt werden.
Bisher haben die entsprechenden anatomischen Institute diese Studenten mit möglichst wenig Aufsehen einfach in die Kurse eingeschrieben.
Dabei stellt sich die Frage, ob all das anders wäre, wenn man mehr über die Verstorbenen wüsste.
Oft lassen nur der Zustand des Körpers und eventuelle makroskopisch sichtbare Veränderungen (z.B. vergrößerte Leber) die Todesursache und das Alter vermuten.
Die Arbeit ist denkbar unpersönlich.
Hier lässt sich zumindest auf den ersten Blick ein Bezug zum klinischen Abschnitt des Studiums und der Berührung mit den Patienten herstellen: wieviel kann, darf und sollte man von seinen Patienten wissen und ab wann ist die Arbeit zu unpersönlich?
Jedoch hinkt dieser Vergleich insofern, als dass lebende Patienten sehr unterschiedlich sind und je nach Station durchaus deutlich mehr oder deutlich weniger Schicksale dahinterstehen.
Während auf der Onkologie die meisten Patienten als schwer krank gelten, kann das auf der Orthopädie ganz anders aussehen, wo man beispielsweise "nur" auf den gebrochenen Knöchel stoßen kann.
Hindernisse
Im Präparierkeller sieht das also anders aus: hier haben die Freiwilligen ihren letzten Ruheort gefunden, jedenfalls bis zu ihrer Beisetzung.
In diesem Zusammenhang habe ich selbst das Experiment gewagt und – trotz gewisser Widerstände – mehr Informationen über einen der Körperspender in Erfahrung gebracht.
Tatsächlich veränderte sich die Situation. Ich dachte etwas mehr über ihn nach.
Allerdings scheinen hier unterschiedliche Gedankengänge eine Rolle zu spielen.
Im Gespräch mit (wenigen) anderen, die das auch gemacht haben, ergaben sich zwei grundsätzliche Arten von Überlegungen: manch einer war zurückhaltender, am Leichnam zu arbeiten.
In meinem Falle lief es eher in die Richtung, dass ich durchaus die Überlegung hatte, ob man dem Verstorbenen nicht in besonderer Weise danken könne.
An der Arbeit selbst veränderte sich kaum etwas. Wenn man erst einmal in einer (aufwändigen) Präparation oder im Selbststudium begriffen ist, dann liegt der gedankliche Fokus anderswo.
In meinem Falle wäre die eingangs gestellte Frage mit "nein" zu beantworten, da mich die Hintergrundinformationen per se nicht am Arbeiten und Lernen gehindert haben. Jedoch ist das nur ein Einzelfall. Die Überlegungen, die sich aus mehr Informationen ergeben sind immer geprägt von persönlichen Ereignissen und der eigenen charakterlichen Einstellung und Ausrichtung.
Dennoch wäre es vermutlich für jeden Studenten eine Bereicherung ein solches kleines Experiment einmal selbst zu wagen.
Für mich persönlich war es eine interessante Erfahrung mich zu informieren, dem Präparieren und dem Selbststudium nachzugehen und die neuen Eindrücke zu verarbeiten.
Leider dürfte davon auszugehen sein, dass die anatomischen Institute davon weniger begeistert sind.
Ihre Gründe ließen sich im Nachgang dann auch klären: oft ist es gewünscht, dass die Studenten nichts über die Verstorbenen wissen.
Nicht zum Schutz der Studenten, sondern zum Schutz der Verstorbenen und insbesondere ihrer Hinterbliebenen.
Bedenkt man, dass ohne die Menschen, die sich zu Lebzeiten dafür entschieden haben Ihren Leichnam der Anatomie zu spenden, die Ausbildung so nicht stattfinden könnte, ist dieser letzte Wunsch nach Schutz der Vergangenheit zu respektieren.
In gewisser Weise könnte man sagen, dass die absolute Anonymität davor bewahrt, dass man negativ - was im Nachgang damit womöglich Pietät missen lässt - über die Verstorbenen denken kann.
Schließlich sorgt eine jede Information über einen Menschen dafür, dass man sich ein Bild von ihm oder ihr macht.
So bleibt also – wenn man sich das weiter überlegt – das Ansehen der Körperspender vollkommen bewahrt und wenn man an seine Zeit im Präparierkurs zurückdenkt kann man sagen: "ohne diese Menschen wäre das nicht möglich gewesen". Das und nicht mehr.
Vielleicht eine etwas fade Erklärung.
Aber eine, die nicht mit der letzten Ruhe der Menschen in Konflikt steht.
Bildnachweise
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