Das Medizinstudium bringt viele Dinge mit sich, die es in dieser Form nirgendwo anders gibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man frisch von der Schule kommt oder bereits ein Berufsleben hinter sich hat. Eines davon ist die veränderte Wahrnehmung der eigenen Umwelt. Ein Gedankengang zum möglichen Nachempfinden.
Einstand
Fragt man einen Studenten, beispielsweise der Betriebswirtschaftslehre oder der Kulturwissenschaften, was er oder sie nach dem Studium anstrebt, läuft heutzutage die Antwort meist in Richtung "versuchen, etwas in meinem Bereich zu finden" oder "in einer großen Firma unterkommen". Der Arbeitsmarkt ist hart umkämpft.
Ein Medizinstudent antwortet jedoch größtenteils in Richtung "diese oder jene Fachrichtung" oder "ich weiß noch nicht welche Fachrichtung" sowie hier und da "in die Forschung".
Antworten außerhalb dessen sind eher selten.
Im Bereich der praktischen ärztlichen Tätigkeit bietet sich dieser Tage für den Absolventen die Möglichkeit, sich eine Stelle dem Grunde nach auszusuchen.
Kamen um 1990 in einigen Regionen noch 50 Bewerber auf eine Assistenzarztstelle in der Chirurgie, kann das Verhältnis heute mitunter bei 20 zu 1 liegen – d.h. 20 Stellen auf einen Bewerber.
Verschiedene Gründe führen dazu, dass der Bedarf nach Absolventen zur Weiterbildung stetig steigt – oder auch die Stellen mehr werden, während die Absolventenzahlen nicht gleichsam mitziehen.
Eine Besonderheit, die sich im Wesentlichen derzeit nur in der Humanmedizin findet.
Doch es ist nicht die einzige.
Nicht unüblich ist statt "Medizinstudent" die Formulierung "angehender Mediziner" zu lesen.
Demgegenüber würde ein Student beispielsweise der Politwissenschaften sich selbst eher nicht als "angehender Politologe" bezeichnen.
Im Medizinstudium steht das Ziel im Wesentlichen fest – die Zulassung als Arzt.
Selbst unter Absolventen, die gar nicht praktisch tätig sind, wird die Zulassung häufig beantragt. Sie gewährt zahlreiche Vorteile, wie die jederzeit vorhandene Möglichkeit privatärztlich tätig zu sein oder auch die Absicherung über das Versorgungswerk.
Hier zeigt sich bereits eine Besonderheit: die Zugehörigkeit zu den freien Berufen, einer kleinen Gruppe von Berufen, die zahlreiche Alleinstellungsmerkmale zeigt. Seien es steuerliche Vorteile, besondere Absicherung bei Berufsunfähigkeit oder im Alter sowie veränderte und vereinfachte Haftungsregelungen.
Das betrifft also nicht nur Ärzte, sondern auch Rechtsanwälte, Steuerberater und andere.
Bei Medizinstudenten zeigen sich Besonderheiten jedoch bereits im Studium.
In der ersten Woche sagte einer unserer Anatomen etwas sehr besonderes. Seines Zeichens ist er auch tatsächlich Arzt (Facharzt für Anatomie) – anders als viele Mitarbeiter in anatomischen Instituten heutzutage, die gar nicht aus dem ärztlichen Bereich kommen, bspw. Biologen, Veterinärmediziner und andere. An manchen Unis wurden sogar schon Biochemiker und Ingenieure gesehen.
Befremdlich, dass diese Berufsgruppen die zukünftigen Ärzte in klinischer Anatomie ausbilden (sollen).
Seine so wichtige Aussage war: "Mit der Einschreibung für den Studiengang unterliegen Sie bereits als Studenten der ärztlichen Schweigepflicht".
Ob das von allen Anwesenden so wahrgenommen und auch verstanden wurde, ist eher unklar.
Es bedeutet in jedem Falle, dass über alle Informationen Stillschweigen bewahrt zu werden hat und besondere rechtliche Regelungen gelten, bspw. nach der Strafprozessordnung. Befreit werden kann der Medizinstudent von dieser Pflicht nur nach den gleichen Regeln, die auch für approbierte Ärzte gilt.
Im Zweifelsfalle erstreckt sich diese sogar auf alle Erkenntnisse, die im Rahmen des Krankenpflegepraktikums gesammelt werden, sofern dieses nach Einschreibung aufgenommen und durchgeführt wurde.
Hier zeigt sich für den Studenten also bereits ein großer Unterschied.
Viel mehr noch aber verändert sich auch plötzlich die Umwelt: so mancher Student macht die Erfahrung bei den Ärzten die er oder sie womöglich sogar schon länger kennt, anders behandelt zu werden. Die Unterschiede mögen subtil sein, aber sie sind spürbar. Manchmal sind sie sogar recht "unsubtil", sondern zeigen sich ziemlich offensichtlich.
Manch einer berichtet auch davon, plötzlich bei Ärzten überhaupt nicht mehr zu warten.
Dabei spielt es häufig gar nicht eine so entscheidende Rolle, ob man im 4. oder im 12. Semester ist.
Die Wahrnehmung durch angehende Kollegen ist eine andere. Man ist der Lernende, derjenige, der die gleiche Profession ausüben wird.
Vom Regen in den Niesel
Die nichtärztliche Umwelt reagiert gar noch weiterführend.
Ob beim Ausüben des studentischen Hochschulsports oder bei einer zu laut geführten Diskussion im Billiard Club: plötzlich ist man der Medizinstudent. Derjenige, der definitiv mehr wissen müsste als ein jeder, der es nicht studiert.
Dass klinisches Wissen im Normalfall erst ab dem 5. Semester gelehrt wird, wissen dabei die wenigsten die nicht darin involviert sind – selbst wenn sie es wüssten würde es vermutlich keine Rolle spielen. In der Regel hat einem bereits jemand seine Symptome geschildert, noch bevor man sagen kann: "ich habe vor 1 Monat angefangen, bin im 1. Semester und habe bisher nur Chemie und Terminologie gehabt".
Häufig liest sich die Formulierung "Ärzte genießen unter den [...] Berufen ein hohes Ansehen". Richtiger sollte es wohl heißen: die Kluft zwischen Arzt und Patient ist größer als bei anderen Berufen und den jeweiligen Personen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen.
Als Medizinstudent hat man also mit Beginn des Studiums die Seiten gewechselt. Man sitzt quasi bereits hinter dem Schreibtisch – ob man will oder nicht und egal ob man gerade erstmal gelernt hat was der Zitratzyklus ist und wie man Verben in Latein beugt.
Nicht nur das – wenn plötzlich von Gesprächen über Ärzte die Rede ist, überlegt manch einer sich genauer was er oder sie dazu sagt, wenn man nach der eigenen Meinung gefragt wird.
Man ist irgendwo bereits ein Teil dieser Gemeinschaft. Nicht als vollwertiges oder gar aktives Mitglied. Wohl aber insoweit gedanklich, als dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass man es wird.
Die Abbrecherquoten bei Medizin liegen im einstelligen Prozentbereich. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Hätte man sich das so gedacht, als man im Studiendekanat der zukünftigen Uni stand und sich einschrieb?
Vermutlich nicht.
Wunschdenken
Auch fragt einen niemand, ob man das eigentlich möchte.
Ob man es möchte oder nicht, ob es einem gefällt oder nicht, ob man es gutheißt oder nicht – es ist eine Tatsache.
Jene, die sicherlich ihren Teil dazu beiträgt, dass manche Patienten sich als "dort" und den Arzt als "den da oben" wahrnehmen. Die Asymmetrie der Beziehung ist stark.
Da werden wohl auch in Zukunft "aufgeklärte Patienten" und Unmengen an Webseiten mit detailliertesten Beschreibungen über jedes Krankheitsbild wenig dran ändern.
Bedenkt man, dass es Fälle gibt, in denen auch erfahrene Fachärzte ins Schleudern geraten wird auch ein Stapel Infobroschüren für Patienten die Kluft höchstens um einige Mikrometer verkleinern.
Die Medizin ist ein komplexes Gebiet, genauso wie beispielsweise die Rechtswissenschaft, das Notarwesen oder die Ingenieurskunst (allesamt ebenfalls freie Berufe). Eine solche Asymmetrie kann allerhöchstens leicht abgefedert – aber keinesfalls ausgeglichen werden.
Macht man sich diesen Umstand bewusst, fällt es womöglich auch leichter zu verstehen, warum die Beziehung zwischen Arzt und Patient schwierig ist. Grundsätzlich. Selbst zwischen einem netten Arzt und einem netten Patienten.
Hat man bereits ein Berufsleben hinter sich in dem man viel mit Menschen gearbeitet hat (auch außerhalb der Medizin), kommt einem das vermutlich etwas weniger problematisch vor. Es kommt auf den früheren Beruf an.
Einem frischen Studenten von 18 zuzusehen wie er im Pflegepraktikum das erste Mal auf Menschen trifft und sich seiner Wirkung nicht bewusst ist, verdeutlicht das. Es ist nicht der Regelfall, aber es kommt in dieser Form eben vor. Manchmal auch häufiger.
Der Patient denkt nicht darüber nach, in welchem Semester der Student ist.
In meinem Falle nahm das gar noch bizarrere Züge an: da ich bereits etwas älter bin (und aussehe), hielten mich die Patienten für einen Assistenzarzt.
Manch einer meinte sogar: "es ist mir egal ob sie kein Arzt sind, sie machen das gut".
Das mag schmeichelhaft sein, ist aber der Sache kaum dienlich.
Insofern wäre es womöglich sinnvoll zu Beginn des Studiums zu allererst einmal zu vermitteln, in welchem gesellschaftlichen Kontext man sich bereits jetzt, d.h. selbst zu Beginn des Studiums (und in seinem zukünftigem Beruf) bewegt und wahrgenommen wird.
Gesprächstechniken oder Vorgehen bei der Anamnese zu erlernen nützen nur wenig, wenn die eigene Rolle nicht in Bezug auf die umgebende Gesellschaft verstanden und wahrgenommen wird.
Der Medizinstudent ist eben nicht nur ein Student per se, sondern erhält bereits sehr früh eine Rolle zugewiesen.
Sie ist nicht Teil des Studiums. Sondern vielmehr all das, was man damit verbindet.
Bildnachweise
Titelbild: www.hamburg-fotos-bilder.de / pixelio.de
Bilder im Text (von oben nach unten):
Walter Reich / pixelio.de
Tony Hegewald / pixelio.de
Jörg Klemme, Hamburg / pixelio.de
berggeist007 / pixelio.de