Cyborgs sind Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. Bislang existierten sie nur im Science Fiction. Jetzt sickern sie in die Gegenwart ein. Denn: "Der menschliche Körper ist durch und durch fehlerhaft."
Die kontinuierliche Messung von Körperparametern, wie sie die "Quantified Self"-Bewegung propagiert, ist mittlerweile Mainstream geworden. Kaum ein Jogger, der nicht mit Runtastic durch die Gegend trabt. Immer mehr Frauen, die zum kontrollierten Abnehmen auf die WiFi-Waage steigen. Und wahrscheinlich schnallt sich sogar Cindy aus Marzahn, das nervige Prekariats-Pummelchen, bald den pinken Fitbit-Armreif um.
Für Biohacker sind das nur halbherzige Schritte. Die natürliche Konsequenz ist für sie die Verlagerung der Messtechnik nach innen. Dabei wird der eigene Körper durch Implantation von "Wetware" - nasser Technik - modifiziert. Das Einbringen von Transponder-Chips ist bei Haus- und Nutztieren zwar längst Routine. Beim Menschen jedoch überschreitet in den Augen vieler das Verpflanzen von Technik, die keinen medizinischen Zwecken dient, eine ethische Schwelle. Das leichte Gruseln, das durch das Zusammentreffen von Silikon und Zellen ausgelöst wird, bietet daher reichlich Potential für marktschreierische PR-Aktionen. So zum Beispiel im Fall des Baja Beach Club, der seinen Gästen die Implantation des umstrittenen "Verichip" anbot. Oder wie beim Aktionskünstler Neil Harbisson, der mit seiner am Pagenkopf fest getackerten Kamera über die Zukunftskongresse dieser Welt tingelt und dadurch ein schönes Auskommen als Cyborg findet.
Das ist jedoch ist Techno-Folklore. Einige Biohacker machen jetzt Ernst. Blutigen Ernst sogar. Tim Cannon sieht nicht aus wie Frankenstein, sondern würde mit seinem Ziegenbärtchen und Unterlippenpiercing nahtlos in jeden Berliner Szeneclub passen. Aber er ist einer der Köpfe hinter Grindhouse Wetware, einer New Yorker Biohacker-Initiative, die den Cyborg-Gedanken mit aller Macht nach vorne bringen will. Das Bewusstsein soll ausgelagert werden - "in irgendetwas, das nicht verrottet". Diese ausgesprochen kohlenstofffeindliche Mission wird auch von Ablegern in Deutschland verfolgt.
Tim Cannon ist offensichtlich entschlossen, diese Vision umzusetzen. So ließ er sich vor einigen Tagen ein etwa iPhone-großes Meßgerät in den Unterarm einpflanzen, das Circadia 1.0. Wer das Ergebnis des Eingriffs sieht, kann ahnen, welche ästhetischen Grenzen die zukünftigen Cyborgs zu überschreiten bereit sind. Für die chirurgisch interessierten Kollegen: Der Eingriff wurde vom "Body Modification Artist" Steve Haworth, einer Art Sauerbruch des Piercings, durchgeführt, der auch an der systematischen Entstellung von The Enigma oder Stalking Cat beteiligt war.
Circadia 1.0 basiert auf dem Open-Source-Projekt HELEDD, einem Vielzweck-Implantat, das unter anderem die Körpertemperatur und den Puls messen kann und diese Werte dann per Bluetooth an ein Smartphone oder einen PC funkt. Das klingt jetzt noch nicht sonderlich beeindruckend - aber es ist der Anfang einer Entwicklung, die Sensorik zunehmend in den Körper verlagern will, statt sie nur an der Körperoberfläche zu messen. Und dieser Trend wird zweifelsohne zunehmen. Denn wenn Menschen sich schon aus rein ästhetischen Gründen piercen lassen, werden sie auch nicht zögern, sich Dinge einpflanzen zu lassen, die auch ein paar Spielereien an Bord haben. Oder?