Menschen zwischen 60 und 64 Jahren erhalten im Schnitt zwei bis drei verschiedene Arzneimittel pro Tag, bei über 80-Jährigen sind es vier bis fünf – das ist viel und lässt sich oft zum Wohle des Patienten kürzen. Programme und Listen sollen dabei helfen.
In den USA gibt es seit über 20 Jahren eine Liste potenziell ungeeigneter Medikamente (PIM) für Menschen im höheren Alter, die Beers-Liste. Diese war auf den deutschen Arzneimittelmarkt nur begrenzt anwendbar und fand kaum Verwendung. Im Jahr 2010 wurde mit der PRISCUS-Liste (priscus = lat.: altehrwürdig) die erste auf den deutschen Arzneimittelmarkt zugeschnittene systematische Auflistung „potenziell inadäquater Medikamente“ für ältere Menschen veröffentlicht. Die Pharmakologin Prof. Petra Thürmann von der Universität Witten-Herdecke entwickelte eine 33-seitige Liste mit 83 Arzneistoffen aus 18 Arzneistoffgruppen. Für 46 Arzneistoffe konnte auch nach der zweiten Befragungsrunde kein eindeutiges Ergebnis erzielt werden. Die Pharmaka wurden von 26 Experten im Rahmen eines Delphiprozesses als für ältere Patienten „potenziell inadäquat“ eingestuft. Die Arzneimittel werden mit ihren häufigen Nebenwirkungen aufgeführt und es werden Alternativen vorgeschlagen. Falls es keine alternativen Pharmaka gibt, werden Kontrollmechanismen vorgeschlagen. So wird beispielsweise das Benzodiazepin Diazepam wegen der langen Halbwertzeit als PIM eingestuft. Die muskelrelaxierende Wirkung steigert das Risiko für Hüftfrakturen. Als Alternative werden kurzwirksame Substanzen wie Zolpidem und Zopiclon genannt. Prinzipiell ein guter Ansatz. Dass Zopiclon jedoch überwiegend renal eleminiert wird und bei einer Niereninsuffizienz kumulieren kann, wird nicht erwähnt. Ebenso nicht, dass dies für Zolpidem nicht gilt. Hier vermisst man eine weitere Differenzierung der Alternativvorschläge. Dennoch war und ist die PRISCUS-Liste ein Schritt in die richtige Richtung.
Als Weiterentwicklung versteht sich die FORTA-Liste. Die FORTA-Liste (Fit for the Aged) erschien 2012, herausgegeben vom Pharmakologen Prof. Martin Wehling von der Medizinischen Fakultät Mannheim. 20 Experten aus dem stationären Bereich haben die „häufigsten, chronisch verwendeten Pharmaka nach Indikationsgebiet und Alterstauglichkeit“ bewertet. Die umfangreiche Liste von 30 Seiten bewertet nahezu alle praxisrelevanten Wirkstoffe. Im Gegensatz zur PRISCUS-Liste nicht nach einem K.O- oder O.K-Prinzip, sondern nach Evidenzkategorien von A – D. FORTA definiert 4 Kategorien von Medikamenten oder Medikamentengruppen:
Beispiele der FORTA-Liste Typische geriatrische Syndrome wie Sturzkrankheit, kognitive Störungen, Inkontinenz sind oft Anlass, auf Medikamente anderer Indikationen zu verzichten, obwohl diese evidenzbasiert wirksam sind, um die genannten Syndrome nicht zu verschlechtern. Beispiel: Antihypertensiva oder orale Antikoagulantien bei Sturzkrankheit.
Eine in der Fachzeitschrift „Age and Ageing“ veröffentlichte Studie hat ergeben, dass die Nutzung von FORTA zu einer erheblichen Verbesserung der Pharmakotherapie bei älteren Patienten führen kann. Nach Auffassung von Dr. Svante Gehring, Ärztegenossenschaft-Nord (ÄGN) gehen die FORTA-Empfehlungen über die der PRISCUS-Liste hinaus, „erreichen aber noch nicht die breite Masse der Ärzte und meines Wissens auch noch nicht die wissenschaftliche Studiendichte der PRISCUS-Liste“. Dennoch bewertet er die Arbeit der Mannheimer als „sehr alltagstauglich und nützlich in der Praxis“.
Das FORTA-System hat den Nachteil, dass die Arzneimittel nur qualitativ bewertet werden. Es wird nicht erwähnt, dass im Alter die Dosis oft niedriger gewählt werden kann, als in der Fachinformation genannt. So ist beispielsweise die übliche Dosis von Hydrochlorothiazid von 25 mg für die Hochdrucktherapie im Alter zu hoch, 12,5 mg sind wirksam und ausreichend. In der Dosierung müsste das Medikament in die Gruppe A.
Ein weiteres Projekt zur Steigerung der Arzneimittelsicherheit bei geriatrischen Patienten ist „Good Palliative-Geriatric Practice (GP-GP)” von Internist Dr. Doron Garfinkel der Universität Tel Aviv. Ziel ist jedoch nicht nur eine altersgerechte Pharmakotherapie, sondern eine Einsparung von Arzneimitteln mit Hilfe eines Algorithmus. Ein weiteres Ziel ist auch, Arzneimittelinteraktionen zu vermeiden. Zu Beginn der Analyse nahmen die Patienten im Median 7,7 Medikamente ein. Nach Anwendung des Good-Palliative-Geriatric-Practice-Algorithmus ergab sich die Empfehlung, bei 64 Patienten auf insgesamt 311 Medikationen zu verzichten (58 Prozent der Arzneimittel). Pro Patient konnten rechnerisch 4,4 Präparate eingespart werden. Insgesamt konnte in 81 Prozent der empfohlenen Fälle das jeweilige Medikament abgesetzt werden. Bei 88 Prozent der Patienten verbesserte sich der Zustand durch die Verringerung der Medikation. Auch Scott et al. sprechen sich in einer umfangreichen Arbeit für eine evidenzbasierte, altersgerechte Pharmakotherapie aus und prangern eine Polypharmazie an. Hiermit unterstützen sie den Ansatz von Garfinkel.
Die Schweiz geht das Problem einer altersgerechten Pharmakotherapie mit Hilfe von Vernetzung und Fortbildung an. Die Qualitätsstiftung EQUAM (Externe Qualitätssicherung in der Medizin) legt die Standards für laufend zu optimierende Medikationssicherheit fest. Sie benennt Start und Stopp-Medikationen und führt Pharmaka auf, die die QT-Zeit verlängern. Arztpraxen können sich zertifizieren lassen, es finden Fortbildungen statt und es sind Ombudsstellen etabliert.
Die irische Arbeitsgruppe um Gallagher und O’Mahony haben zwei Strategien zur Vermeidung von unerwünschten Nebenwirkungen im Alter entwickelt. „STOPP“ (Screening Tool of Older Persons’ potentially inappropriate Prescriptions) ermöglicht eine Kontrolle der Medikationspläne älterer Patienten anhand einer Liste von 65 Kriterien nach Arzneistoffgruppen und einzelnen Wirkstoffen. Diese Medikamente sind bei ≥65-Jährigen potentiell ungeeignet. „START“ (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment) stellt dem Arzt eine Indikationsliste von 22 Punkten zur Erleichterung der Arzneimittelauswahl zur Verfügung. Diese Medikamente sollten bei ≥65-jährigen in bestimmten Situationen erwogen werden. Beide Kriterienlisten wurden als Konsensuspapier mit 18 Experten in zwei Delphi-Runden abgestimmt. Unter den STOPP-Medikamenten werden beispielsweise genannt:
In einer Studie dazu wurde von Gallagher und O’Mahony die Validität der STOPP-Kriterien überprüft. Das Ergebnis spricht für das Programm: die STOPP-Liste bildet eine höhere Sensitivität im Vergleich zur Beers-Liste bei der Detektion von UAW ab.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine Broschüre entwickelt, die das Thema Pharmakotherapie im Alter ausführlich behandelt. „Medikamente im Alter: Welche Wirkstoffe sind ungeeignet?“ kann kostenfrei online bezogen werden. „Für ältere Frauen ist das Risiko, ein potenziell ungeeignetes Medikament verordnet zu bekommen, höher als für Männer: Sechs von zehn Patienten, die ein ungeeignetes Medikament vom Arzt verschrieben bekommen haben, waren weiblich“, so der warnende Inhalt. Die sehr übersichtliche und grafisch hervorragend gestaltete Broschüre entstand unter der fachlichen Beratung von Prof. Petra Thürmann, eine absolute Expertin auf dem Gebiet und „Mutter“ der PRISCUS Liste. Dass eine Empfehlung in Form einer Liste grundsätzlich Lücken hat, wird auch dadurch deutlich, dass eine additive Gefahr von Arzneimittelkombinationen ausgehen kann. NSAR wie Diclofenac steigern in Verbindung mit ACE-Hemmern und Hydrochlorothiazid die Gefahr einer Niereninsuffizienz. Eine hervorragende Datenbank zum Interaktions-Check bietet die Datenbank drugs.com. Sie kann als Ergänzung zu allen Listen und Algorithmen zur Pharmakotherapie im Alter herangezogen werden. Das geriatrisch-pharmakotherapeutische Mantra „Start low – Go slow” ist sicherlich die kürzeste aller „Listen“ und dennoch unentbehrlich.