Neurowissenschaftlern ist es gelungen, angstbehaftete Erinnerungen aus dem Gehirn von Probanden zu löschen. Ihr Werkzeug: Algorithmen, neudeutsch „Algos“, und kleine Belohnungen. Ein Hoffnungsschimmer für Patienten, die eine Konfrontationstherapie vermeiden wollen.
Die Konfrontationstherapie gilt momentan als die erfolgreichste Behandlungsstrategie für Patienten mit Angst- und Panikstörungen. Doch nicht wenige Patienten scheitern an den emotionalen Anstrengungen, die eine Konfrontationstherapie zwangsläufig mit sich bringt. Neurowissenschaftler haben nun eine Methode erfunden, mit der sich angstbehaftete Erinnerungen des Patienten unbemerkt aus dem Gehirn löschen lassen. „Decoded Neurofeedback“ heißt die neue Methode, mit der sich angsterfüllte Erinnerungen zunächst lesen und identifizieren und später löschen lassen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie messen die Wissenschaftler dabei die Aktivität im Gehirn und finden komplexe Muster, die für ein spezifisches Angstgedächtnis stehen. In ihrer Studie kreierten die Forscher zunächst ein solch spezifisches Angstgedächtnis bei 17 gesunden Probanden. Während sich die Probanden farbige Muster auf einem Computerbildschirm ansahen, erhielten sie beim roten und grünen Muster einen kurzen elektrischen Schock. Das spezifische angstassoziierte Muster, das dabei im visuellen Cortex der Probanden entstand, zeichneten die Wissenschaftler auf. Gleichzeitig waren auch Bereiche im Angstzentrum des Gehirns, der Amygdala aktiv und die Probanden produzierten Angstschweiß auf ihrer Haut. Beim gelben und blauen Muster hingegen passierte nichts. Am Ende des ersten Behandlungstages zeigten die Probanden auch ohne Elektroschock Angst vor den roten und grünen Mustern, nicht aber vor den blauen und gelben.
Muster während des Elektroschocks © Ai Koizumi Studienautor Dr. Ben Seymour von der University of Cambridge erklärt den Vorgang des „Decoded Neurofeedback“: „Die Art und Weise, wie Informationen im Gehirn wiedergegeben werden, ist sehr kompliziert. Mit der Hilfe der Artificial Intelligence-Bilderkennung können wir nun inhaltliche Aspekte der Informationen identifizieren. Mit einem AI-Algorithmus ist es uns gelungen, schwach angstbehaftete Erinnerungen schnell und zielsicher zu lesen. Die große Herausforderung bestand nun darin, diese angstbehafteten Erinnerungen wieder zu löschen, ohne sie erneut ins Bewusstsein der Probanden zu rufen.“
Muster während des Elektroschocks © Ai Koizumi Nachdem sie die angstauslösenden Elektroschocks beendet hatten, beobachteten die Wissenschaftler ihre Probanden drei Tage lang. Selbst in absoluten Ruhephasen traten dieselben angstgeprägten Gehirnmuster immer wieder – von den Probanden unbemerkt – auf den Monitoren der Wissenschaftler auf. Und jedes Mal, wenn ein solches Muster – zumindest teilweise – sichtbar wurde, belohnten die Wissenschaftler den betreffenden Studienteilnehmer mit einem kleinen Geldbetrag. Damit überschrieben sie die angsterfüllten Erinnerungen an den Elektroschock mit einem positiven Gefühl. Den Probanden teilten die Wissenschaftler lediglich mit, dass die kleinen Geldgeschenke im Zusammenhang mit ihrer Hirnaktivität stünden. Wie genau, verrieten sie allerdings nicht. Indem sie die immer wieder unbewusst aufkeimenden angstbehafteten Muster unmittelbar mit einem kleinen Geldbetrag belohnten, gelang es den Forschern offenbar, die negativen Assoziationen zu überschreiben.
Der fünfte Tag der Versuchsreihe begann mit ein paar wenigen, nicht mit Bildern verknüpften Elektroschocks, die die Erinnerungen an das Erlebte wieder herrufen sollten. Als die Wissenschaftler ihren Probanden im Anschluss die Bilder zeigten, die sie während der Elektroschocks betrachtet hatten, zeigte sich Folgendes: „Erstaunlicherweise konnten wir keine typisch angstassoziierten Schweiß auf der Haut mehr messen. Auch im Angstzentrum des Gehirns, in der Amygdala, herrschte Ruhe“, so Studienleiterin Dr. Ai Koizumi vom Advanced Telecommunicatons Research Institute International in Kyoto, Japan, und weiter: „Das bedeutet, dass es uns gelungen ist, das Angstgedächtnis unserer Probanden zu löschen, ohne dass sie es überhaupt bemerkt haben.“ Hirnscan eines Probanden während Angstgefühl. Credit: Ai Koizumi
Trotz der überschaubaren Anzahl an Probanden hoffen die Wissenschaftler, dass die in ihrer Pilotstudie erprobte Technik zu einer klinischen Behandlungsmethode für Patienten mit Posttraumatischen Belastungsstörungen oder Phobien weiterentwickelt werden kann. Eine Therapie könnte dann folgendermaßen aussehen: „Um unsere Anwendung für Patienten nutzbar zu machen, müssen wir eine Bibliothek mit Informationscodes des Gehirns zu den verschiedenen Angst einflösenden Dingen wie beispielsweise Spinnen, aber auch Situationen, erstellen, die die Patienten belasten“, so Dr. Seymour. „Dann könnten die Patienten im Grunde zu regelmäßigen „Decoded Neurofeedback“-Sitzungen kommen, in denen wir die Angst löschen, die durch bestimmte Erinnerungen ausgelöst wird!“ Der Stress einer Konfrontationstherapie und die Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie würden damit einfach der Vergangenheit angehören. Doch wird es wirklich bald so einfach sein, seine Ängste loszuwerden? „Wahrscheinlich nicht“, räumte Seymour ein, denn „die Ängste von realen Patienten sind sicher 100 bis 1.000fach stärker ausgeprägt und bestehen zudem schon weitaus länger als die im Versuch erzeugten Ängste. Das könnte eine beachtliche Hürde darstellen, wenn wir die Methode in der Praxis anwenden.“ Seymour geht jedoch davon aus, dass spezifische Phobien, wie beispielsweise die vor Spinnen, bald relativ unkompliziert behandelt werden können. „Schwieriger wird es aber bei konzeptionellen Ängsten wie Höhen- oder Flugangst.” Wie bei der Konfrontationstherapie auch müssten die Patienten hier etwas Geduld mitbringen. Originalpublikation: Fear reduction without fear through reinforcement of neural activity that bypasses conscious exposure Koizumi et al.; Nature Human Behaviour, doi: 10.1038/S41562-016-0006