"Früher war alles anders!"
Der Patient, der dies mit Leidensmine und einem unverkennbaren Unterton der Frustration sagt, sitzt vor dem Urologen seines Vertrauens in der Sprechstunde und ist gerade einmal 25 Jahre alt.
"Was war anders?" will der Urologe wissen.
"Alles", seufzt der junge Mann. "Früher konnte ich nach dem Sex auch noch ein zweites oder manchmal sogar drittes mal. Aber heutzutage kann ich mich nicht mehr richtig motivieren. Ich habe keine rechte Lust. Er wird einfach nicht von alleine wieder steif."
"Hmmm..." Alle möglichen Differentialdiagnosen zur erektilen Dysfunktion schießen durch den Kopf des erfahrenen Facharztes, der sich auf einem Plakat in seinem Wartezimmer als Held der Liebe ausweist und seine Patienten auffordert ihn auf Potenzprobleme anzusprechen, und er überlegt, wie er diagnostisch weiterkommen wird. "Wie häufig haben Sie denn so im Durchschnitt Geschlechtsverkehr?"
"Jeden zweiten Tag."
"Achso." Das klingt eigentlich nicht nach einer ernsthaften Potenzstörung. "Und seit wann sind Sie mit Ihrer Freundin oder Frau schon zusammen?"
"Seit neun Jahren."
Der Urologe kratzt sich nachdenklich am Kopf. "Und wie läuft das dann so ab? Ich meine, sitzen Sie abends vor dem Fernseher und plötzlich fällt Ihnen ein: 'Du Schatz, gestern hatten wir keinen Sex. Heute ist es wieder soweit!'?"
"Naja..."
"Und wenn Sie 'mal außer der Reihe Lust haben sollten?" fragt der Arzt. "Denken Sie dann: Ach, nein, wir hatten ja erst gestern Sex?"
Betretenes Schweigen.
"Könnte es vielleicht sein, dass in Ihrer Beziehung eine gewisse Routine herrscht, dass es ein wenig an Spontanität fehlt?"
Der junge Mann schaut den Arzt nachdenklich an: "Ich weiß nicht. Vielleicht..."
Im Geiste bläßt der Urologe alle Untersuchungen ab, die er eingangs erwogen hatte. "Vertrauen Sie mir, bei Ihnen ist alles in Ordnung. Gehen Sie doch entspannter an die Sache heran. Und haben Sie Sex, wenn Ihnen beiden danach ist. Es ist völlig normal, eine Zeit lang keinen Sex zu haben. Bestimmt klappt es dann auch wieder besser."
Der Patient wirkt sichtlich erleichtert, als habe er nur von jemandem hören wollen, dass mit ihm alles okay ist. Er lächelt.
"Vielen Dank, Herr Doktor."
"Keine Ursache."
Eine weitere Heldentat der Liebe.
Titelbild: © Ich-und-Du / PIXELIO