Ein cleverer Chefarzt verteilt die Last der Verantwortung auf möglichst viele Schultern und organisiert seine Abteilung so, dass sie auch in seiner eventuellen Abwesenheit genauso funktioniert wie zu Zeiten, an denen er gegenwärtig ist. Das heißt auch, dass er zumindest seine Oberärzte so anleitet, dass sie z. B. alle in der Abteilung durchgeführten Eingriffe selbständig ausführen können. Dieses Vorgehen garantiert dem cleveren Chefarzt ein ruhigeres Leben und ein Mehr an Freizeit.
Leider gibt es immer wieder Chefärzte mit Profilneurose, welche möglichst unentbehrlich sein möchten: Bestimmte Eingriffe behalten sie sich daher ausschließlich eifersüchtig für sich vor. So können sie sich als das große Genie, der Halbgott in Weiß fühlen. Dies führt aber im Umkehrschluss auch dazu, dass diese Eingriffe in ihrer Abwesenheit nicht stattfinden können.
Zwei Beispiele aus Kliniken, an denen ich gearbeitet habe:
1. Ein Chefarzt der Inneren Medizin, seines Zeichens Gastroenterologe, war der einzige in seiner Abteilung, der eine ERCP durchführen konnte/durfte. Wenn er im Urlaub war, fanden keine entsprechenden Eingriffe geplant statt. Und sollte eine Notfall-ERCP auftauchen, musste der Patient in ein anderes Krankenhaus verlegt werden.
2. Ein Leitender Arzt der Orthopädie behielt das Recht, Wirbelsäulen-Eingriffe (z. B. Nukleotomien) durchzuführen ausschließlich für sich vor. Patienten mit einem akuten Bandscheibenprolaps mussten daher in seiner Abwesenheit an eine andere Abteilung verwiesen werden.
Aus meiner Sicht zwei absurde Situationen, welche dem Ruf der Klinik nur schaden können, denn kein Eingriff ist so kompliziert, dass man niemanden dazu anleiten kann. Für Eitelkeiten sollte hier kein Platz sein. Außerdem ist es aus meiner Sicht etwas Positives, das den eigenen guten Ruf mehrt, wenn man sein Wissen und sein Können weitergeben kann.
Aber ich bin schließlich auch kein Chefarzt.
Titelbild: © Katharina Scherer / PIXELIO