Keine Impfstoffe, kein Metoprolol, kein L-Thyroxin: Apotheker haben bei der Beschaffung etlicher Präparate ihre liebe Not. Sie sehen das Problem sowohl bei Gesetzlichen Krankenversicherungen als auch bei Herstellern. Politiker ducken sich weg.
„Derzeit besteht nach Mitteilung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte in Deutschland ein Versorgungsmangel mit piperacillinhaltigen Arzneimitteln“, schreibt das Bundesgesundheitsministerium in einer Mitteilung. Alternative gleichwertige Arzneimitteltherapien stünden nicht zur Verfügung. Wirklich nur eine Ausnahmesituation durch haverierte Produktionsstätten?
„Lieferengpässe treten eigentlich zunehmend auf“, sagt Ingrid Kaiser, Inhaberin der Engel-Apotheke in Freising, zu DocCheck. Und ihre Kollegin Helen Brugger ergänzt: „Meine aktuelle Defektquote beim Großhandel beträgt in den letzten drei Monaten etwa zwei Prozent. Sie leitet drei Apotheken in Herrsching. Kaisers Erfahrungen zufolge sind derzeit vor allem Impfstoffe wie Pneumovax® oder Repevax® betroffen. „Lieferprobleme gibt es auch immer wieder bei Hormonpflastern, was – wie bei den Impfstoffen – sehr problematisch ist, denn sie können nicht einfach durch ein anderes Präparat ausgetauscht werden“, ergänzt die Apothekerin. Auch bei Metoprolol 100 mg retard und 200 mg retard aller Hersteller gebe es Engpässe. „Als Grund hierfür bekam ich von diversen Firmen die Auskunft, ein großer Hersteller sei ausgefallen und die anderen Firmen nicht mit der Produktion hinterher“, so Kaiser. „Bei den Impfstoffen bekommt man von Herstellern eigentlich keine richtige Aussage, woran es liegt, also an Produktionsausfällen oder an der erhöhten Nachfrage.“ Problematisch seien auch häufige Lieferschwierigkeiten bei Schilddrüsenpräparaten, vor allem aufgrund der schwierigen Substitution. Helen Brugger berichtet in erster Linie von Problemen bei Novaminsulfonsäure, Metoprolol 100-Retardpräparaten und L-Thyroxinpräparaten. „Ein leidiges Dauerproblem sind die Impfstoffe“, ergänzt die Apothekerin. Sie nennt IPV (Polio), Infanrix® IPV (Diphterie, Haemophilus, Pertussis, Polio), Pneumovax® (Pneumokokken) sowie Repevax® (Diphterie, Pertussis, Polio, Tetanus).
Beide Apothekenleiterinnen sind mit ihren Einschätzungen keineswegs allein auf weiter Flur, wie aktuelle Befragungen zeigen. Frage: "Wie häufig ist Ihre Apotheke in den vergangenen drei Monaten von Lieferengpässen betroffen gewesen?" Quelle: IFH / APOkix APOkix zufolge haben Lieferengpässe in den letzten vier Jahren an Relevanz gewonnen. Das Kölner Institut für Handelsforschung befragte in 2012 und 2016 rund 200 Apothekenleiter. Gaben vor vier Jahren noch 21,9 Prozent von ihnen an, Lieferengpässe würden mehrmals täglich auftreten, sind aktuell 65,2 Prozent dieser Meinung. Einmal täglich hatten früher 19,1 Prozent mit derartigen Problemen zu kämpfen. Aktuell sind es 22,2 Prozent. Die Zahl an selten betroffenen Kollegen verringerte sich praktisch gegen null.
Immer häufiger suchen Pharmazeuten den Fehler bei Herstellern (2012: 74,4 Prozent Zustimmung, 2016: 84,5 Prozent). Apotheker und Großhändler werfen ihnen vor, eher Märkte mit höheren Preisen zu beliefern. In Zeiten des AMNOG steht Deutschland nicht mehr an erster Stelle. Hinzu kommt, dass viele Wirkstoffe, allen voran Generika, im Ausland produziert werden. Fällt ein Betrieb aufgrund von technischen Problemen aus, betrifft das gleich mehrere Firmen. Angesichts des Preiskampfes bei Generika zeichnet sich keine erkennbare Lösung ab. Frage: "Wen sehen Sie als Verursacher für die Lieferengpässe in Apotheken?" Quelle: IFH / APOkix Krankenkassen bleiben nahezu unverändert in der Schusslinie (76,1 versus 74,1 Prozent). Hier gelten Rabattverträge als Schwachstelle im System. Oft ist nur ein Anbieter im Boot. Mehrfachvergaben könnten das Problem lösen, falls es einige Firmen gibt, die nicht am gleichen Zulieferbetrieb hängen. Für Patienten bedeutet das allerdings, noch häufiger als bisher ein anderes Produkt zu erhalten – und die Adhärenz sinkt weiter. Wenig überraschend rücken Politiker und deren Gesetzesinitiativen zunehmend in den Brennpunkt (52,4 versus 68,9 Prozent). Auch der Großhandel bekommt sein Fett ab (11,1 versus 20,7 Prozent). Apotheker spekulieren auch hier, Präparate würden ins Ausland vertickert. Grossisten dementieren – und schieben den Schwarzen Peter zurück zur Industrie. Genau 98,2 Prozent aller interviewten Chefs stimmten der Aussage, dass Lieferengpässe zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen, zu. Als besonders erfolgversprechende Maßnahme beurteilten 95,2 Prozent Anpassungen bei Rabattverträgen. Häufigere Retaxationen durch Krankenkassen befürchteten 91,2 Prozent. Und 75 Prozent witterten in Lieferengpässen eine Möglichkeit, dass GKVen Gelder von Apotheken zurückholen. 66,5 Prozent der Inhaber befürworteten eine gesetzliche Meldepflicht für Lieferengpässe, wobei sie andererseits mehr Bürokratie in öffentlichen Apotheken befürchten.
Genau hier wird es für Apothekenleiter kritisch, Stichwort Austausch. Gesetzliche Krankenkassen fordern immer häufiger Nachweise von einem Großhändler oder gar von zwei Grossisten („Doppeldefektbeleg“). Als aufwändige Alternative bleibt, direkt beim Hersteller anzufragen. Nicht alle Firmen sind bereit, ihr eigenes Versagen auch schriftlich zu bestätigen. Ansonsten existieren Zusammenstellungen nicht verfügbarer Pharmaka beziehungsweise Impfstoffe. Die Listen werden aufgrund von freiwilligen Meldungen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht. Standesvertreter wollen Hersteller in die Pflicht nehmen. Zu diesem Schritt hat sich die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) durchgerungen. Hermann Gröhe (CDU) schreckt vor solchen Maßnahmen bislang zurück. Der Bundesgesundheitsminister will als Ergebnis seines Pharmadialogs besonders versorgungsrelevante, engpassgefährdeter Arzneimittel in Listenform zusammenstellen. Hinzu kommen regelmäßige Treffen mit Herstellern, Bundesbehörden und Vertretern der Fachkreise. Bei Piperacillin schreibt sein Haus: „Im Bedarfsfall können die zuständigen Behörden der Länder ein befristetes Abweichen von den Vorgaben des AMG gestatten, um erforderlichenfalls auch eine Behandlung mit Arzneimitteln zu ermöglichen, die im Geltungsbereich des AMG nicht zugelassen sind.“ Damit werden Probleme verlagert, aber nicht behoben. Heilberuflern ist das alles zu wenig. Professor Dr. Bernhard Wörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) erklärte im Tagesspiegel, er könne sich eine obligatorische Vorratshaltung der Pharmaproduzenten vorstellen.