Sie werden Tierversuche und klinische Studien nicht ersetzen, aber schon jetzt bieten Organoide aus Stammzellen viele Vorteile. Das Zika-Virus konnte an einem Mini-Hirn erforscht werden. Auch am Mini-Magen lässt sich das Bakterium Helicobacter pylori bestens studieren.
Selbst wenn Patienten mit Mukoviszidose durch verbesserte Behandlungsmethoden heute meist das Erwachsenenalter erreichen, ist die Krankheit immer noch eine der großen ungelösten Probleme der Medizin. Fast 2.000 unterschiedliche Mutationen im CFTR (Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator)-Gen sind bisher beschrieben. Gerade für Patienten mit seltenen Varianten sind die Aussichten auf eine effektive Therapie eher gering.
Im Oktober letzten Jahres erschien in Science Translational Medicine ein Artikel einer holländischen Arbeitsgruppe um Hans Clevers, der vielleicht das Roulette-Spiel bei der Behandlung dieser seltenen Varianten beenden könnte. Aus intestinalen Stammzellen zweier Mukoviszidose-Probanden züchteten die Wissenschaftler aus Utrecht ein „Mini-Gedärm“, an dem sich die Wirkung unterschiedlicher Therapieansätze im Labor testen ließ. Zumindest bei diesem Klein-Versuch ließen sich die Labordaten auch tatsächlich erfolgreich in die klinische Praxis übertragen. Bereits 2007 entdeckten Clevers und seine Kollegen Stammzellen, aus denen sich ein bis zwei Millimeter große „Organoide“ züchten lassen. Diese Darm-Stammzellen, so Clevers, „sind wahrscheinlich die aktivsten in unserem Körper“, aber sie sind längst nicht die einzigen pluripotenten unsterblichen Zellen, aus denen sich „Labororgane“ machen lassen. Auch aus Prostata und Pankreas lassen sich geeignete Zellen isolieren, ebenso aus Magen, Nieren oder sogar auch dem zentralen Nervensystem. Nicht immer ist eine Verbindung solcher Organmodellsysteme zur klinischen Anwendung klar ersichtlich, häufig dient der Zellhaufen erst einmal dazu, Funktionen und Kreisläufe im gesunden oder kranken Zustand bestimmter Organe näher zu studieren. Nimmt man jedoch das Modellsystem „Haut“, so hat die Produktion inzwischen schon die Serienreife erreicht. „Laborhaut“ aus der Maschine wird inzwischen gern als erprobtes Abdeckmaterial bei Verbrennungen verwendet.
Vor zwei Jahren fing Clevers an, aus kolorektalen Tumorzellen eine Organoid-Biobank anzulegen, um Behandlungsmöglichkeiten für Tumoren an diesem Modell austesten zu können. Zusammen mit seinem Kollegen David Truveson aus Cold Spring Harbor entwickelte er auch ein ähnliches Depot für Klein-Organe aus Pankreaskarzinomzellen. Aber auch als Modell für die Entstehung von Karzinomen sind Organoide inzwischen ein wichtiges Werkzeug. Das Setzen gezielter Mutationen mit der CRISPR/Cas9-Technik ist heute kein großes Kunststück mehr. Zwei unabhängige Studien zeigten etwa, wie vier sequentielle Mutationen aus einer Wildtyp-Stammzelle ein Adenokarzinom machen. Mini-Niere aus einem Patienten© Benajmin Freedaman & Joseph Bonventre labs 2014 gelang es James Wells vom Cincinnati Children’s Hospital, einen Mini-Magen in der Petrischale heranzuzüchten. In diesem Gewächs fühlte sich der Magenschädling Helicobacter pylori wie zu Hause und ließ sich dementsprechend gut studieren. Aus dem australischen Melbourne kam im Herbst 2015 die Nachricht von der Zucht winziger Nieren, die denjenigen in der frühen Embryonalentwicklung ähnelten. Zwei Precursor-Populationen für die Anlage der Nierenkanälchen und Nephronen bildeten ein Netzwerk mit Bindegewebs- und vorläufigen Gefäßstrukturen und mit einem Genexpressionsmuster, das dem frühen menschlichen Embryo ähnelt. Bei der Vielzahl der Gewebe in der erwachsenen Niere wollten die Autoren noch nicht von einer Perspektive bis zu einem Nierenersatz aus der Retorte sprechen. Jedoch diente die Mini-Niere als gutes Modell für eine unerwünschte E.coli-Infektion mit der Konsequenz einer hämolytischen Urämie durch entsprechende Toxine.
Die Vermehrung von Influenzaviren konnten Virologen an einem Lungenmodell eines Patienten mit einem Signalling-Defekt eindrucksvoll studieren. Ganz aktuell brachte die Entwicklung eines neuronalen Organmodells die Forschung beim gefürchteten Zika-Virus weiter. An der Johns Hopkins-University in Baltimore infizierten Wissenschafter ein iPSC-Vorderhirn-Organoid und konnten damit die vom Virus verursachte Mikroenzephalie nachstellen. Die typischen Symptome von virus-assoziiertem Zelltod, verlangsamter Proliferation und einem verringerten Zellschicht-Volumen tauchten im Labormodell ebenso wie in-vivo bei den infizierten Embryos auf. Damit scheint es auch möglich zu sein, verschiedene Therapieoptionen vor der Anwendung am Menschen besser als zuvor testen zu können. Schließlich konnten Forscher an der Yale University mithilfe von Mini-Gehirnen Unterschiede auf molekularer Ebene zwischen normalen Patienten und solchen aus dem Autismus-Spektrum identifizieren. Infektion von Mini-Gehirnen mit dem Zika-Virus© Qian and Nguyen et al./Cell 2016 Sehr schwer tun sich die Fachleute von der regenerativen Medizin jedoch bei der Kultivierung von Leberzellen. „Wir können sie nicht einmal für ein paar Stunden in Kultur halten“, sagt etwa Takanori Takebe von der Yokohama City University. Zumindest durch Kokultur von Hepatoblasten aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) zusammen mit mesenchymalen und endothelialen Stammzellen gelingt die Zucht von kleinen linsengroßen „Leberknospen“, die sich mit der Leber eines sechs Wochen alten Embryos vergleichen lassen. Zwar lässt sich aus einer einzelnen dieser Knospen kein Organ regenerieren, jedoch funktioniert die Wiederherstellung eines vergifteten Organs zumindest im Tierversuch, wenn Dutzende dieser Organoide zusammenarbeiten.
Bei manchen dieser Organsysteme ist die klinische Anwendung nicht mehr allzu weit weg, bei vielen jedoch liegt ihr primärerer Einsatz in der Grundlagenforschung beim Studium der Entstehung von Krankheiten oder beim Studium der entsprechenden Organphysiologie. Auch auf lange Sicht werden sie Tierexperimente nicht vollständig ersetzen können. Dazu fehlt den Organoiden in der Petrischale die Interaktionsmöglichkeit zu benachbarten und entfernteren Organsystemen. Im Vergleich zu anderen 2D-Organzellkulturen sind Organoide aus Stammzellen jedoch näher an der Physiologie des lebenden Körpers. Ihre Zucht hat etlichen transformierten Zelllinien gegenüber den Vorteil, dass ihr Genom nur wenig Mutationen aufweist, die bei etablierten Zelllinien durch eine überlange Kultur im Brutschrank entstanden sind. Schließlich benötigen viele Organoid-Zellkulturen oft nur wenige Stammzellen, die sich mit entsprechenden Faktoren zum gewünschten Gewebe differenzieren.
Allerdings sind 3D-Organkulturen für das Studium inflammatorischer Erkrankungswege nur bedingt geeignet. Die Interaktion mit dem Immunsystem lässt sich in der Kultur nur begrenzt simulieren. Ebenso treten in der Kulturschale kaum solche biomechanischen Kräfte auf, wie sie im lebenden Organismus vorkommen. Meist noch unzureichend studiert ist ihr Anspruch an spezifische Wachstumsfaktoren. Das ist zum Beispiel auch eine Erklärung dafür, warum die Zucht eines Mini-Ovars bislang immer noch gescheitert ist. Weiterhin sind die großen Phänotyp-Unterschiede zwischen den ausgewachsenen Miniorganen von Kultur zu Kultur und zum Teil sogar innerhalb einer Kultur noch meist unenträtselt. Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang möglicherweise auch die verwendete Gerüstsubstanz. Dennoch prophezeien Experten den dreidimensionalen Gebilden aus der Gefäßkultur eine große Zukunft. Als Beleg dafür kann wohl auch die Vergabe des renommierten Körber-Preises für Europäische Wissenschaft dienen. Hans Clevers hatte vor knapp zehn Jahren den Mut, aus den von ihm entdeckten Darm-Stammzellen, kleine Organe zu formen, die heute eine unentbehrliche Rolle bei der Erprobung von Wirkstoffen und beim Studium von Tumoren spielen. Weltweit, so schätzt man, produzieren heute rund 200 Labors kleine Organe aus der Retorte. Es werden sicher noch mehr werden.