Die Preise für neue Medikamente steigen, während der Zusatznutzen oft gering ist. Für Mediziner ist es schwer, den tatsächlichen Nutzen der Arzneien einzuschätzen. Informationen der Industrie sind von Eigeninteressen geleitet, genauso wie Studien und Fortbildungen. Wer hilft?
Rund ein Drittel aller neuen Medikamente der vergangenen fünf Jahre haben keinen Zusatznutzen - dies meldete kürzlich der GKV-Spitzenverband. Ein weiteres Drittel der 129 seit 2012 eingeführten Präparate hätte nur für bestimmte Patientengruppen einen zusätzliche Nutzen. Lediglich 44 der Mittel hätten einen klaren Nutzen. Die meisten neuen Arzneien dienen der Behandlung von Infektionserkrankungen wie Hepatitis, Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes oder Krebserkrankungen. Eine Meldung, die bei Allgemeinmedizinern und Internisten weiter für Verunsicherung sorgt – in einer ohnehin unübersichtlichen Lage. Denn neue Medikamente sind oft wesentlich teurer als bewährte Mittel, und der tatsächliche Zusatznutzen ist für den Arzt schwer zu erkennen. Zudem gibt es kaum zuverlässige Quellen: Informationen der Industrie sind von Eigeninteressen geleitet, Studien selten zuverlässig und Fortbildungen häufig beeinflusst durch die Hersteller. Die Frage ist: Wer liefert dem Arzt verlässliche Informationen?
Internist Dr. Erich Freisleben „Die Frage des Zusatznutzens ist in der Praxis oft anders, als es dargestelltt wird“, sagt der Berliner Internist Erich Freisleben: „Die Realität des niedergelassenen Arztes unterscheidet sich nicht selten von dem, was in der Presse oder aus den entsprechenden Kanälen als Standard oder bessere Lösung dargebracht wird. Dies betrifft viele Medikamente.“ Es gebe Arzneien, die aus der Mode kämen, oder denen man bestimmte Nachteile nachsage. „Das können wir in der Praxis nicht nachvollziehen“, sagt Freisleben, „zudem liegen die Vorteile eines neuen Präparats oft weit hinter dem zurück, was gesagt wird.“ „In der Praxis als Allgemeinmediziner ist es extrem schwer herauszufinden, ob ein Medikament tatsächlich einen Zusatznutzen hat, oder nicht“, sagt Freisleben. „Das ist eine vielschichtige Angelegenheit, die ich aus den Perspektiven der Allgemeinmedizin und des praktizierenden Arztes durch Erfahrung beurteilen kann“. Er könne zum Beispiel die vermeintlichen Vorteile der neuen Antikoagulantien nur zur Kenntnis nehmen. „Da ich aber mit den bisherigen klassischen Blutverdünnern 30 Jahre lang gearbeitet und eine gewisse Erfahrung damit habe, dann weiß ich, wie gefährlich sie sind und wie ich mit ihnen umgehen muss“, so der Internist. Anders sei es bei einem neuen Medikament, dass er einem Patienten gebe. Dann habe er nur eine wissenschaftliche Untersuchung und könne nicht überblicken, auf welchen Ebenen diese geführt wurden, wie gut geschult die Ärzte seien, die dieses Mittel ausprobiert hätten, oder welche Patienten sie in ihrer Untersuchung einbezogen hätten.
Auch Allgemeinmediziner Uwe Denker steht der gängigen Praxis skeptisch gegenüber: „Wir Hausärzte richten uns bei der Wahl eines Medikaments nach verschiedenen Kriterien. Das Wichtigste sind die Erfahrungen, die wir während unserer klinischen Ausbildung und im langen Berufsleben mit Medikamenten gemacht haben.“ Wie auch Freisleben informiert sich Denker bei der Wahl der Arzneien in bestimmten Veröffentlichungen. Unabhängiger Rat ist selten; vor allem das Arznei-Telegramm habe sich als Instanz in der Branche einen Namen gemacht. „Zudem richte ich mich auch nach den Aussagen von seriösen Vertretern der Arzneimittelindustrie und von Fachleuten auf Fortbildungsveranstaltungen“, sagt Denker. Allgemeinmediziner Dr. Uwe Denker Diese sieht Freisleben kritisch: „Wir sind dazu angehalten, Weiterbildungen zu machen. Doch nach meiner Einschätzung sind etwa 90 Prozent in irgend einer Weise von der Industrie gesponsert“, sagt er. „Die Fortbildungsverpflichtung hat natürlich ihren Sinn, aber in der jetzigen Form dient sie der Vermarktungsstrategie und ist keine gute Quelle. Wir haben also keine Sicherheit, dass wir exakte und korrekte Informationen bekommen.“ Natürlich gebe es auch seriöse Quellen, doch diese bekomme man nicht präsentiert, man müsse sich mühsam heranarbeiten.
Als seriöse Informationsquelle kann man das Institit für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bezeichnen. Als unabhängiges wissenschaftliches Institut untersucht es nach eigenen Angaben den Nutzen und Schaden von medizinischen Maßnahmen. „Über die Vor- und Nachteile von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren informieren wir in Form von wissenschaftlichen Berichten und allgemein verständlichen Gesundheitsinformationen.“ Doch als Informationsquelle für den Arzt ist es in der Praxis wenig nützlich. Das IQWiG bereitet Informationen vor allem für den G-BA auf. Ein Manko, das auch die Krankenkassen sehen: „Heute muss ein Arzt ein großes Eigeninteresse an den Tag legen, um zu den Informationen zu gelangen“, sagt Ann Marini, Sprecherin des GKV: „Grundsätzlich sind die Informationen weder des G-BA noch des IQWiG für die Zielgruppe ‚praktizierender niedergelassener Arzt‘ aufgebaut. Von daher ist es für diese in beiden Fällen vergleichbar mühsam, an Informationen zu kommen. Nicht zuletzt deshalb ist uns die direkte und gut aufbereitete Arztinformation über die Praxissoftware ein so großes Anliegen.“ Zwar gebe es im Internet ein großes Wissen, auf das auch internationale Wissenschaftler zugreifen würden. „Wir müssen aber feststellen, dass dieses Wissen in der Praxis im Versorgungsalltag viel zu spät ankommt“, sagt sie. Heute würde der G-BA in der Regel alle zwei Wochen eine Entscheidung zu neuen Therapien treffen. „Momentan stecken wir mitten in einer Arzneimittelreform. Hier soll unter anderem auch dieser Punkt angegangen werden, was wir begrüßen" so Marini. Die Kassen möchten, dass die Informationen des BGA künftig schnell und anwenderfreundlich über die Praxissoftware beim Arzt ankommen. "Für uns als Krankenkassen ist jetzt die Frage, wie diese Informationen aufbereitet werden. Gibt es wieder eine Einflussnahme der Pharmaindustrie?“
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) beschuldigte den Spitzenverband der GKV der Polemik, als dieser die Zahlen zum Zusatznutzen herausgab: „Bei mehr als 70 Prozent der Patientengruppen, bei denen der G-BA den Zusatznutzen als nicht belegt sieht, ist er aus rein formalen Gründen zu seinem Urteil gekommen“, sagt BPI-Sprecher Andreas Aumann: „Der G-BA fällt sein Urteil des nicht vorhandenen Zusatznutzens auch in dem Fall, in dem der Hersteller bestimmte Unterlagen nicht mit geliefert hat. Da geht es nicht um Inhalte, sondern um die Form.“ Kein Argument, urteilt der GKV: „Basis für die Untersuchungen des G-BA sind immer die Daten, die der Hersteller selbst einreicht", sagt Marini. „Die Anforderungen kennt der Hersteller. Er hat jederzeit die Möglichkeit, sich beim G-BA beraten zu lassen. Rein formale Fehler müssten also keinesfalls so hoch sein.“ Für den Arzt sei der Grund für die Ablehnung des Zusatznutzens ohnehin egal, so Marini: „Für ihn zählt nur, dass der Zusatznutzen nicht belegt ist, denn er hat kein wissenschaftliche validiertes Wissen über das Medikament. Er hat nur die Aussage des Pharmaunternehmens, dass dieses Produkt besser ist als ein anderes.“
Diese Aussage wird heute geprüft durch ein Verfahren zur Bewertung von Arzneimitteln, das der ehemalige FDP-Politiker Philipp Rösler ins Leben rief. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) sollte steigenden Preisen und geringem Nutzen entgegenwirken. Seit 2011 muss nun das höchste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), zusammen mit dem IQWiG jedes neue Medikament auf Kosten und Nutzen hin prüfen. So sollen Präparate verhindert werden, die keinen Vorteil gegenüber den bereits bewährten bieten. Seit der Einführung des AMNOG müssen Unternehmen die Preise für diejenigen Präparate, die einen nachgewiesenen Zusatznutzen haben, mit den Kassen aushandeln. Ziel ist es, die Kosten zu reduzieren. In der Praxis ist dies jedoch schwierig, denn der Hersteller steigt als Erster mit einem Vorschlag in die Verhandlungen ein. So konnten in den vergangenen fünf Jahren auch nur rund 2,5 Milliarden Euro gespart werden - geplant waren zehn Milliarden Euro.
Zusatznutzen seien häufig statistisch ausgerechnete der Werte, die in einem sehr kleinen Bereich lägen, sagt Freisleben. Dies rechtfertige nicht, dass das Medikament deshalb zehn Mal so teuer sei. "Die derzeitigen Preise sind ein Unding, so der Internist. "Dass man jedes Mal einen zigfachen Preis für ein Medikament verlangt, wenn es nur einen kleinen Vorteil bringt, ist aus meiner Sicht vollkommen irrational. Das ist heraus geworfenes Geld." Ginge es nach Freisleben, sollten die Kassen mehr Verantwortung übernehmen: „Da ist gerade der Allgemeinmediziner in eine nicht akzeptable Situation gestellt. Die Kassen erwarten, dass er spart und keine teuren Medikamente verschreibt, aber sie geben keine Hilfestellung, weder logistisch noch juristisch.“ Um sinnvoll zu sparen, wünscht sich Freisleben unter anderem eine Gegenrechnung, die ermittelt, wie hoch der Zusatznutzen wirklich ist und ob er im Verhältnis steht zum Preis. „Von uns wird verlangt zu sparen“, sagt er, „ aber alle anderen werfen das Geld heraus. So geht es nicht.“