Warum macht uns Lesen kurzsichtig? Forscher aus Tübingen fanden nun eine mögliche Ursache. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Entwicklung einer Myopie aufgehalten werden könnte. Die Maßnahme ist überraschend einfach.
Experten schätzen, dass bis 2050 die Hälfte der Bevölkerung an Myopie leiden wird. In Deutschland liegt die Zahl der Betroffenen derzeit bei rund einem Viertel. Bei ihnen ist der Augapfel zu lang gewachsen, sodass der Brennpunkt vor der Netzhaut liegt. Objekte in der Ferne erscheinen dadurch unscharf. Neben genetischen Ursachen scheint eine mangelnde Zeit bei Tageslicht im Freien sowie Lesen das Risiko für Myopie zu erhöhen. Wie Lesen kurzsichtig macht, ist immer noch nicht genau erforscht. Andrea C. Aleman, Min Wang und Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen haben nun einen möglichen Grund gefunden.
Anders als eine Digitalkamera, die jeden Pixel ausliest, misst die Netzhaut (Retina) Unterschiede zwischen benachbarten „Pixeln“ unserer Umwelt. Die Bipolarzellen in der Retina vergleichen die Helligkeit in der Mitte und der Peripherie ihres lichtempfindlichen Bereiches. Sie leiten nur den Unterschied, also den Kontrast an das Gehirn weiter. Die sogenannten ON-Zellen reagieren, wenn in ihrem lichtempfindlichen Bereich (dem rezeptiven Feld) die Mitte heller und die Peripherie dunkler ist. OFF-Zellen hingegen leiten Signale an das Gehirn, wenn die Mitte dunkler, und die Umgebung heller ist. Während unserer normalen Seherfahrung werden beide Typen ähnlich stark gereizt. Aber wie ist das beim Lesen von Text? Schaeffel hat eine Software entwickelt, die die Reizstärke für ON und OFF-Zellen in unserer visuellen Welt quantifiziert. Dabei hat sich gezeigt, dass dunkler Text auf hellem Hintergrund hauptsächlich die OFF-Zellen reizt, während heller Text auf dunklem Hintergrund hauptsächlich die ON-Zellen reizt. Von früheren Experimenten mit Hühnern und Mäusen war bereits bekannt, dass die Stimulation der ON-Zellen das Augenwachstum eher hemmen, Stimulation der OFF-Zellen es aber verstärken kann. Spielt dieser Mechanismus auch beim Menschen eine Rolle? Mittels der optischen Kohärenztomographie (OCT) kann im lebenden Auge die Dicke der Gewebsschichten im Mikrometerbereich vermessen werden. Die Veränderung der Dicke der Aderhaut, der Schicht hinter der Netzhaut, sagt vorher, ob das Auge in nächster Zeit wachsen wird. Dies wurde sowohl bei Hühnern und verschiedenen Affenarten als auch bei Kindern bereits erforscht. Wird die Aderhaut dünner, weist das auf die Entwicklung einer Myopie hin, wird sie dicker, bleibt das Augenwachstum gehemmt, es entwickelt sich keine Myopie.
Die Forscher haben Probanden dunklen Text auf hellem Hintergrund lesen lassen sowie hellen Text auf dunklem Hintergrund. Bereits nach 30 Minuten konnten sie messen, dass die Aderhaut dünner wurde, wenn schwarzer Text gelesen wurde, und dicker, wenn Text mit umgekehrtem Kontrast gelesen wurde. Dies lässt erwarten, dass schwarzer Text auf hellem Hintergrund die Myopieentwicklung fördert, und heller Text auf dunklem Hintergrund die Myopie hemmt. Den Textkontrast umzukehren, wäre deshalb eine einfach umzusetzende Maßnahme, die Myopieentwicklung aufzuhalten, denn immer mehr Zeit wird beim Arbeiten und Lesen an Computerbildschirmen und Tablets verbracht. Diese Strategie gegen die Entwicklung von Kurzsichtigkeit muss noch verifiziert werden. Dazu haben die Tübinger Wissenschaftler bereits eine Studie mit Schulkindern geplant. Ihre aktuelle Untersuchung zeigt aber bereits im Experiment, dass die Aderhautdicke sich in beide Richtungen ändern kann, nur durch Lesen mit verschiedenem Textkontrast. Der Text basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums Tübingen