Wenn wir unsere Sinne trainieren, können wir ihre Leistung verbessern. Cortisol kann diese Fähigkeit allerdings komplett unterbinden. Probanden, denen das Stresshormon verabreicht wurde, konnten trotz Training die Leistungsfähigkeit ihres Tastsinnes nicht steigern.
Wenn wir unsere Sinne trainieren, können wir sie schärfen und ihre Leistung verbessern. Das Stresshormon Cortisol kann diese wichtige Fähigkeit allerdings komplett unterbinden, wie Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum (RUB) nun berichten. „Dass Stress das Abrufen von Erinnerungen verhindern kann, war uns schon bekannt. Jetzt wissen wir, dass Stress auch einen deutlichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat“, erklärt Dr. Hubert Dinse, einer der Autoren der Studie. In ihrer Studie untersuchten die Forscher, wie sich nach einer Trainingsphase der Tastsinn von 30 Versuchsteilnehmern entwickelte. Die Hälfte von ihnen bekam während des Versuchs eine mittlere Dosis des Stresshormons Cortisol verabreicht, während die andere Gruppe ein Placebo einnahm.
Damit das Training des Tastsinns für alle Teilnehmer vergleichbar war, nutzten die Forscher die erprobte Methode der passiven Stimulation der Finger. Das führt zu einer deutlichen Verbesserung des Tastsinns, wie frühere Studien sowie der Einsatz in der Therapie zeigen. Die Tastleistung wurde vor und nach der Anwendung durch die Zwei-Punkt-Diskriminationsschwelle bestimmt. Dieser Wert gibt an, wie weit zwei Reize voneinander entfernt sein müssen, damit man sie als getrennte Reize wahrnimmt – je geringer die Entfernung, desto besser der Tastsinn. Während die Placebogruppe die Leistungsfähigkeit ihres Tastsinnes wie erwartet um etwa 15 Prozent steigern konnte, verhinderte die Cortisolgabe bei der anderen Gruppe die Verbesserung des Tastsinnes fast komplett. Kognitionspsychologe Prof. Dr. Oliver T. Wolf sagt: „Unsere Daten zeigen, dass eine einzige Dosis des Stresshormons nicht nur die Erinnerungszentrale im Hippocampus stört, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf die Plastizität von Sinnesarealen des Gehirns hat.“ In vorherigen Studien, bei denen auf Zellebene geforscht wurde, stellten Neurowissenschaftler bereits fest, dass Cortisol die Verstärkung von synaptischen Verbindungen – und damit die Lernfähigkeit des Gehirns – hemmt. Die Forscher vermuten daher, dass auch ihre Ergebnisse durch Veränderungen synaptischer Plastizität verursacht sind.
Die Ergebnisse dieser Studie könnten Auswirkungen auf klinische Anwendungen haben. Kortikosteroide, dazu gehört auch Cortisol, werden sehr häufig in der Behandlung von immunologischen und neurologischen Erkrankungen eingesetzt. Die gezeigten Auswirkungen auf das Wahrnehmungslernen könnten jedoch auch Rehabilitationsmaßnahmen negativ beeinflussen, da diese auf eben solchen Lernprozessen beruhen. Daher ist es notwendig zu klären, welche möglichen Auswirkungen die klinische Gabe dieser Stoffe auf Lernprozesse im Gehirn hat. Originalpublikation: The stress hormone cortisol blocks perceptual learning in humans Hubert R. Dinse et al.; Psychoneuroendocrinology, doi: 10.1016/j.psyneuen.2016.12.002; 2016