Wenn Brustkrebs in andere Organe streut, sinken die Chancen auf Heilung rapide. Onkologen haben entdeckt, dass das Protein Endosialin den Eintritt von Krebszellen in die Blutgefäße ermöglicht. Endosialin könnte als Biomarker und Angriffspunkt für neue Therapien dienen.
Metastasen sind die Hauptursache für die knapp 18.000 Brustkrebs-Todesfälle pro Jahr in Deutschland. Auch wenn Patientinnen im Krankheitsstadium der Metastasierung eine schlechte Prognose haben, so hat sich ihre Überlebenszeit dank moderner Therapeutika in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Experten gehen davon aus, dass die Bildung der Metastasen und ihre Ansiedlung in anderen Organen ein mehrstufiger Prozess ist. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Blutgefäße: Tumoren locken sie an, um ihre Versorgung mit Nährstoffen sicher zu stellen, verschaffen so aber auch einzelnen Krebszellen die Gelegenheit, sich im gesamten Körper zu verbreiten. Was im Detail passiert, wenn Krebszellen in die Blutgefäße gelangen und auf Wanderschaft gehen, darüber herrscht noch viel Unklarheit. Ein internationales Forscherteam kam nun einem Protein auf die Spur, das offenbar die Metastasierung von Brustkrebs unterstützt. Wie die Wissenschaftler um Hellmut Augustin in einem Artikel in der Fachzeitschrift Cancer Research berichten, erleichtert Endosialin den Eintritt von Krebszellen in die Blutgefäße. Es wird von so genannten Perizyten hergestellt, die ein wichtiger Bestandteil von Blutgefäßen sind. „Diese stark verzweigten Zellen sitzen auf den Endothelzellen, die das Innere der Blutgefäße auskleiden“, erklärt Augustin, Professor an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg und Leiter der Abteilung Vaskuläre Onkologie und Metastasierung am Deutschen Krebsforschungszentrum.
Augustin erforscht seit 25 Jahren die Biologie der gefäßbildenden Endothelzellen. Vor zehn Jahren entdeckten er und seine Mitarbeiter, dass Perizyten und nicht, wie vorher vermutet, Endothelzellen die Produktionsstätte von Endosialin und einer Reihe weiterer verwandter Moleküle sind. Seitdem stehen Perizyten im Fokus seiner Forschung: „Es wird immer deutlicher, dass Perizyten an der Steuerung der Proliferation von Endothelzellen und der Gefäßneubildung wesentlich beteiligt sind“, sagt Augustin. „Im aktivierten Zustand bilden sie große Mengen des Membranproteins Endosialin.“ Interessanterweise, so der Forscher, lasse sich Endosialin bei gesunden Erwachsenen kaum aufzuspüren, es komme nur während der Embryonalentwicklung und bei vielen krankhaften Prozessen wie Tumorbildung, Atherosklerose oder Leberverletzungen häufig vor. Um herauszufinden, ob Endosialin eine Rolle spielt, wenn Krebszellen anfangen, sich auszubreiten, verglichen die Forscher Mäuse, die aufgrund eines Gendefekts kein Endosialin mehr herstellen konnten, mit normalen Mäusen. Das Team um Augustin verpflanzte allen Tieren Krebszellen in die Brustleiste und entfernte die heranwachenden Tumoren nach ein paar Tagen, sobald diese eine Größe von rund einem halben Zentimeter erreicht hatten. „Wir ahmen auf diese Weise das Geschehen bei Patientinnen nach, bei denen normalerweise auch der Primärtumor entfernt wird“, sagt Augustin. „Außerdem stellen wir so sicher, dass Metastasen sich in den Mäusen überhaupt ausbreiten können und das Experiment nicht abgebrochen werden muss, weil der Primärtumor zu stark wächst.“
Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren eindeutig: In Abwesenheit von Endosialin traten bei den Tieren später und in einem geringeren Ausmaß Metastasen in anderen Organen auf. 70 Prozent der veränderten Mäuse überlebten bis zum Ende des Experiments, aber nur 30,7 Prozent der Mäuse, die noch Endosialin produzieren konnten. Im Rahmen weiterer Versuche mit Zellen in der Kulturschale konnten die Forscher zeigen, dass Tumorzellen nur dann eine aus Endothelzellen aufgebaute Schicht überwinden konnten, wenn ebenfalls Endosialin-produzierende Perizyten vorhanden waren. „Endosialin hilft den Tumorzellen, mit den Gefäßzellen in Kontakt zu treten und so in die Blutbahn einzudringen“, erklärt Augustin. Allerdings wissen er und seine Mitarbeiter noch nicht, warum Perizyten plötzlich damit beginnen, große Mengen Endosialin herzustellen und wie es Krebszellen schaffen, diesen Prozess anzustoßen. Brustkrebszellen in der Maus: Die Blutgefäße (rot) sind von Perizyten bedeckt, die Endosialin (grün) produzieren. © H. Augustin Auf die weiteren Schritte der Metastasierung nach Eintritt in die Blutbahn hat Endosialin jedoch keinen Einfluss: Als die Forscher Versuchstieren die Krebszellen direkt in die Blutbahn spritzten, entwickelten sich sowohl in den Mäusen mit als auch in den Mäusen ohne Endosialin ausgeprägte Lungenmetastasen. Nicht nur bei Mäusen sondern auch bei Brustkrebspatientinnen konnten die Forscher einen Zusammenhang zwischen Endosialin und der Ausbreitung der Metastasen beobachten: Als sie Tumor-Gewebeproben von 334 Patientinnen untersuchten und diese mit den klinischen Verläufen abglichen, stellten Augustin und seine Kollegen fest, dass der Krebs um so stärker gestreut hatte, je mehr Endosialin sich in den Tumor-Blutgefäßen nachweisen ließ. Auch die Länge der Überlebenszeit korrelierte mit der Menge des von den Perizyten produzierten Endosialins.
„Es lohnt sich deshalb zu prüfen, ob sich Endosialin als Biomarker eignet, der das Risiko der Metastasierung anzeigt: Wird in der Tumorgewebeprobe einer Brustkrebspatientin viel Endosialin gefunden, so könnte das bedeuten, dass der Tumor bereits gestreut hat“, findet Augustin. Er kann sich auch gut vorstellen, dass sich Endosialin als Angriffspunkt für neue Therapeutika gegen Brustkrebs eignet. Ein gegen Endosialin gerichteter monoklonaler Antikörper namens Ontuxizumab, den das Biotech-Unternehmen Morphotek entwickelt hat, befindet sich bereits in klinischer Erprobung. Derzeit wird der Antikörper in mehreren Phase-II-Studien bei Patienten mit metastasierendem Melanom, kolorektalem Karzinom , Sarkom oder Lymphom getestet. Auch wenn es noch kein Medikament gibt, das metastasierenden Brustkrebs über eine Blockade von Endosialin bekämpft, so sind in den vergangenen Jahren jedoch einige moderne Therapeutika auf den Markt gekommen, die das Leben von Patientinnen mit metastasierendem Brustkrebs deutlich verlängern. Beispielsweise Kadcyla, ein mit einem Chemotherapeutikum gekoppelter Antikörper, der Brustkrebszellen über das auf deren Oberfläche sitzende Rezeptorprotein HER2 angreift. Oder der CDK4/6-Inhibitor Ibrance, der in den Zellzyklus von Brustkrebszellen eingreift und diese so daran hindert, sich weiter zu teilen. „Mit diesen neuen Medikamenten verschaffen wir vielen Patientinnen mit metastasierendem Brustkrebs eine längere Überlebenszeit, in der die Betroffenen weitgehend beschwerdefrei sind und die, je nach Ort der Streuung, durchaus einige bis viele Jahre betragen kann“, sagt Marc Sütterlin, Direktor der Frauenklinik des Universitätsklinikums Mannheim. Er geht davon aus, dass sich die Situation von Patientinnen mit metastasierendem Brustkrebs in nächster Zeit wahrscheinlich weiter verbessern wird, da sich noch mehrere viel versprechende Substanzen in der fortgeschrittenen klinischen Prüfung befinden.
Metastasen bei Brustkrebs lassen sich zwar immer besser behandeln. Doch bei welchen Brustkrebs-Patientinnen, die zum Zeitpunkt der Erstdiagnose metastasenfrei waren, sie auftreten und bei welchen nicht, das können Mediziner momentan nur schwer einschätzen. „Heute bekommen alle diese Patientinnen nach der chirurgischen Entfernung des Primärtumors eine medikamentöse Therapie“, berichtet Sütterlin. „Es wäre fantastisch, wenn wir bessere Biomarker hätten, mit denen wir das Risiko der Metastasenbildung voraussagen könnten und so vielen Patientinnen eine letztlich unnötige Behandlung mit Medikamenten ersparen könnten.“ Deshalb, so Sütterlin, sei weiterhin Grundlagenforschung wie die von Augustins Team nötig, um noch weitere Moleküle wie Endosialin, die sich prinzipiell als Biomarker eigneten, aufzuspüren.