Ein Bandscheibenvorfall ist meist der Beginn einer langen Leidensgeschichte. Zu einem Happy End könnte nun ein neues Verfahren beitragen, mit dem körpereigene Zellen im Labor vermehrt und zusammen mit verschiedenen Biomaterialien eine neue Bandscheibe bilden.
Wissenschaftler haben eine neue Methode zur Therapie von Bandscheibenvorfällen entwickelt: Eine Injektionsflüssigkeit aus patienteneigenen Zellen, Biomaterialien und einem Vernetzer, die zusammen in der Bandscheibe ein Hydrogel mit Knorpelgewebe-ähnlichen Eigenschaften bilden. So könnten Patienten dauerhaft von ihren Beschwerden befreit werden.
Ein Bandscheibenvorfall kann theoretisch in jedem Bereich der Wirbelsäule und auch an mehreren Stellen gleichzeitig vorkommen. Dennoch tritt er gehäuft im unteren Lendenwirbelbereich und am Übergang zum Kreuzbein auf. Je nach genauer Lokalisation kann er dabei Schmerzen, Lähmungen, Gefühlsstörungen, Inkontinenz und akuten Harnverhalt hervorrufen. Wenn durch einen konservativen Therapieansatz, d.h. mit Schmerzmitteln, Massagen oder Lockerungs- und Übungstherapie, keine Besserung der Beschwerden erreicht wird, muss operiert werden. Ziel einer solchen Operation ist es, eine Befreiung der Nervenstrukturen vom bandscheibenbedingtem Druck zu erreichen. Oft sind die Erfolge jedoch nicht von langer Dauer. „Es gibt das Postnukleotomie-Syndrom, damit meint man das wiederkehrende Auftreten von Beschwerden nach einer Bandscheibenoperation. Häufig kommt es auch zu einem Rezidivprolaps“, erklärt Dr. Karin Benz, Projektleiterin am NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen.
Um das zerstörte Bandscheibengewebe zu regenerieren, haben Wissenschaftler ein neuartiges Verfahren entwickelt, das bereits in ähnlicher Form zum Knorpelersatz im Knie eingesetzt wird. Die Therapie beginnt damit, dass Knorpelzellen aus dem Bandscheibengewebe des Patienten isoliert werden. Die Bandscheibenzellen aus dem Vorfall werden im Labor vermehrt und nach einigen Wochen, eingebettet in ein neuartiges Biomaterial, wieder in die Bandscheibe gespritzt, um hier das Gewebe zu regenerieren. „Je nachdem, wie viel Ausgangsmaterial durch die Operation gewonnen wurde, dauert die Anzucht der Zellen etwa zwei bis vier Wochen“, erklärt Dr. Benz. „Wir starten mit ein paar hunderttausend Zellen; benötigt werden schließlich einige Millionen. Die genaue Zelldosis bestimmt der behandelnde Arzt, das maximale Injektionsvolumen sind zurzeit 2,5 Milliliter mit maximal fünf Millionen Zellen“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Mollenhauer, Forschungs- und Entwicklungsleiter eines industriellen Forschungspartners des NMI. Wie viele Zellen injiziert werden müssen, hängt in erster Linie von der Größe des Bandscheibenvorfalls ab, also der Größe des verloren gegangenen Volumens, das wieder aufgefüllt werden kann. Zusammen mit den Knorpelzellen wird ein schmerzhemmendes Biomaterial in die Bandscheibe injiziert, wo es sich verfestigt, die Zellen fixiert und die Bandscheibe biomechanisch unterstützt. „Bei unserm Biomaterial handelt es sich um humanes Albumin, das derart modifiziert wurde, dass es im Patienten chemisch vernetzt werden kann“, so Dr. Benz. Die Injektionsflüssigkeit, die dem Patienten gespritzt wird, besteht aus zwei Komponenten. Diese werden während der Injektion in einer Spezialspritze vermischt. Eine Komponente enthält die Zellen und weitere Biomaterialien, die andere einen Vernetzer. In der Bandscheibe bildet sich daraus ein Hydrogel mit Knorpelgewebe-ähnlichen Eigenschaften.
Mit dem neuen Verfahren zur Bandscheibenregeneration werden jetzt die ersten Patienten behandelt - wissenschaftlich begleitet vom NMI. „Bisher sind 12 Patienten mit unserer Methode behandelt worden“, so Dr. Benz. Es habe bis dato keine Komplikationen gegeben – die erste Implantation liegt allerdings erst 3 Monate zurück.
Die neue Methode zu Regeneration der Bandscheibe wird auch mit öffentlichen Geldern unterstützt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung steuert sechs Millionen Euro dazu bei. Während der industrielle Partner die klinische Studie verantwortet, die Produktionstechnologie stellt und dem Arzt die Zelltransplantate liefert, ist das NMI-Team für die präklinischen und klinischen Begleitanalysen verantwortlich. „Unser primäres Projektziel ist die Entwicklung von Qualitätsmarkern. Mittelfristig wollen wir auch Prognostikmarker entwickeln, mit denen vorausgesagt werden kann, ob eine erfolgreiche Behandlung überhaupt möglich ist“, erklärt Dr. Benz. Damit treiben die Wissenschaftler auch die personalisierte Medizin voran. „Wir analysieren aus allen Stadien der Zellkultur und nach der Transplantation in regelmäßigen Abständen Blut und Urin der Patienten. Dafür stellen wir ein passendes Assaysystem zusammen, um verschiedene Klassen von Biomolekülen detektieren zu können“, erklärt Dr. Benz. „Aus der Kombination von Patienten- und Zellkulturdaten schnüren wir ein Paket, das die Sicherheit, Effizienz und Wirksamkeit der neuen Behandlungsmethode beschreiben soll. Das Validieren von Markern soll uns am Projektende unterstützen, die Zulassung im Rahmen der Richtlinien des Arzneimittelgesetzes zu beantragen“, fasst Mollenhauer zusammen. Und auch die Kosten sollen durch die Marker im Rahmen gehalten werden. „Wenn wir im Laufe des Verfahrens feststellen, dass eine bestimmte Patientengruppe nicht auf unser Verfahren anspricht, könnte diese mit Hilfe der Marker von vorn herein ausgeschlossen werden“, so Dr. Benz. Doch die Projektleiterin ist zuversichtlich, denn auf die klassische Knorpelzell-Transplantation am Knie, einem ähnlichen Verfahren, sprechen nur wenige Patienten aus bisher unbekannten Gründen nicht an.
Das leitende Studienzentrum ist die Universitätsklinik Innsbruck. Beteiligt sind aber auch deutsche Kliniken, z. B. die BG-Klinik in Halle und die BG-Unfallklinik Murnau. Zurzeit werden noch geeignete Patienten gesucht, die an der Studie teilnehmen möchten. „Alle Patienten werden bis zu drei Jahre durch Funktionskontrollen, Erhebungen zur Lebensqualitätsverbesserung und durch moderne bildgebende Verfahren (MRT-Scans) nachkontrolliert“, so Mollenhauer. Nach etwa zwei Jahren soll die Studie beendet sein und das neue Verfahren zur Zulassung kommen. Langfristig sollen auch Patienten profitieren, bei denen nicht durch eine Operation Vorfallgewebe zur Zellisolierung verfügbar ist. „Eine Option für diese Patienten könnte der Einsatz von Stammzellen aus dem Knochenmark sein, die zur Geweberegeneration in die Bandscheibe injiziert werden“, so Dr. Benz. Auch diese Option wird gerade beforscht.