Allein in Deutschland leiden zehn Millionen Patienten an Migräne – teilweise mit Aura. Eine leitliniengerechte Therapie hilft vielen, aber nicht allen Betroffenen. Umso wichtiger sind neue pharmakologische und physikalische Strategien sowie Studien zu Komorbiditäten.
Migräneforschung weltweit: Auf der Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) stellten Kollegen ihre Strategie gegen therapieresistente Migräne vor. Zeitgleich sind mehrere Fachartikel erschienen, die neue Aspekte auf das Leiden werfen.
Bereits der Nachwuchs wird von Migräne gepeinigt. Neurologen aus den USA und aus Brasilien wollten wissen, inwieweit dadurch schulische Leistungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Marco A. Arruda und Marcelo E. Bigal, Brasilien und New York, erfassten Daten von 5.671 Kindern. Über Fragebögen fanden sie heraus, dass 9,0 Prozent der kleinen Probanden an episodischer und 0,6 Prozent an chronischer Migräne litten – bei 17,6 Prozent lag wahrscheinlich Migräne vor. Schlechte Noten und Probleme korrelierten mit der episodischen beziehungsweise chronischen Form, wobei Dauer und Schwere der Schmerzen entscheidend waren. Kinder, die in ihrer Vorgeschichte häufig von Koliken geplagt wurden, litten später sechs Mal häufiger an Migräneattacken. Das hat eine amerikanische Fall-Kontroll-Studie jetzt ergeben. Bei 73 Prozent aller jugendlichen Migränepatienten ließ sich ein Zusammenhang durch Befragung der Eltern herstellen. Für die Entstehung von Dreimonatskoliken gibt es derzeit nur Hypothesen, Experten postulieren Regulationsstörungen oder gastrointestinale Ursachen. Sollte sich die Vermutung, dass es sich um eine frühe Manifestation von Migräne handelt, bestätigen, hätte das weit reichende Konsequenzen, wobei es keine Anhaltspunkte zur Pharmakotherapie in dieser Altersgruppe gibt.
Bei Erwachsenen stößt vor allem Melatonin (griechisch melas: schwarz), ein alter Bekannter, auf Interesse. Die Idee liegt nahe: Attacken treten in den frühen Morgenstunden auf, ein Zusammenhang mit Schlafmangel wurde mehrfach vermutet. Können Betroffene am Wochenende ihren Wecker endlich mal vergessen, kommt es zu Beschwerden. Melatonin selbst verbessert die Nachtruhe und hat antiinflammatorische Eigenschaften – eines der zahlreichen Erklärungsmodelle bewertet Migräne als aseptische Entzündung. Mario Peres, Brasilien, verglich in einer Studie mit rund 180 Patienten jetzt Melatonin, Amitriptylin und Placebo. Alle Teilnehmer gaben zu Beginn im Schnitt acht Schmerztage pro Monat zu Protokoll. Unter Melatonin verringerte sich die Häufigkeit um den Faktor 2,7, unter Amitriptylin um 2,18 und unter Placebo um 1,18. Die Ergebnisse waren bei Melatonin signifikant im Vergleich zu Placebo, aber nicht im Vergleich zu Amitriptylin. Offen bleibt, welche Tagesdosis an Melatonin optimal ist – Peres arbeitete mit drei Milligramm. Immerhin berichtet der Forscher, dass jeder zweite Migränepatient auf den Wirkstoff reagierte, in der Amitriptylin-Gruppe waren es 39 Prozent. Auch sei es bei Melatonin lediglich zu leichten Nebenwirkungen gekommen, während Patienten mit Amitriptylin unter starker Tagesmüdigkeit und Mundtrockenheit zu leiden hatten. Jenseits diverser Pharmaka bleiben physikalische Verfahren als Alternative.
Auf der AAN-Jahrestagung präsentierten Neurologen eine Pilotstudie zur Neurostimulation. Patienten erhalten dabei Gerätschaften, um den Vagusnervs transdemal zu reizen. Das 90-sekündige Prozedere kann gegebenenfalls mehrfach wiederholt werden. Peter J. Goadsby von der Universität San Franzisco nahm 30 Patienten in eine Studie auf und dokumentierte 79 Migräneattacken. Von allen Probanden wurden 38 Prozent innerhalb von zwei Stunden ihre Beschwerden los. Jetzt müssen placebokontrollierte Tests folgen, um mit besseren Daten weiterzuarbeiten. Kollegen um Jean Schoenen, Liège, sind schon deutlich weiter, sie haben Resultate einer doppelt verblindeten, placebokontrollierten Studie publiziert. Schoenen testete die supraorbitale transkutane elektrische Stimulation (TENS) bei 67 Migränepatienten. Pro Tag sollte das Gerät 20 Minuten angewendet werden. In der Gruppe mit einem Dummy blieb die Zahl an Kopfschmerztagen konstant, während Patienten durch elektrische Impulse pro Monat etwa zwei Kopfschmerztage weniger hatten. Bei jedem dritten Patienten wurde das Leiden deutlich erträglicher, unter Placebo berichtete nur jeder zehnte Studienteilnehmer davon. Krankenkassen übernehmen die Kosten bei Migräne nicht, was sich durch weitere Daten vielleicht ändern könnte. Schoenen bewertet das TENS-Verfahren als erfolgreich, fordert aber Multicenterstudien mit größeren Patientenzahlen.
Weitere Veröffentlichungen zeigen, dass migräneartige Kopfschmerzen teilweise als Warnzeichen für anderweitige Grunderkrankungen dienen. Neurologen der Uniklinik Jekaterinburg haben 199 Patienten befragt, die sich wegen eines Aneurysmas in Behandlung befanden. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe mit 194 Blutspendern. Das Ergebnis: Bereits weit vor der Ruptur klagten zwei von drei Betroffenen über migräneartige Kopfschmerzen, im Vergleich zu einem Drittel der Probanden in der Vergleichsgruppe. Die Autoren vermuten als Mechanismus noch unbekannte Stimuli in Nervenendigungen beim Aneurysma. Eine Migräne mit Aura wiederum geht mit kardiovaskulären Risiken einher.
Dazu präsentierten Neurologen Ergebnisse aus der Women´s Health Study mit 39.876 Frauen. Ihr Resultat: Migräne mit Aura steht mit 7,1 Ereignissen pro von 1.000 Probandinnen nach arteriellen Hypertonien (9,8 pro 1000) an zweiter Stelle der Risikoliste für Schlaganfall und Herzinfarkt. Erst später folgen Klassiker wie Diabetes, Tabakkonsum oder Adipositas. Da Migräne bereits in jungen Jahren auftritt, rät Tobias Kurth aus Boston, Patientinnen sollten unbedingt auf den Glimmstängel verzichten, Übergewicht vermeiden und ihren Blutdruck regelmäßig kontrollieren. Ärztliche Vorsorgetermine machen bei dieser Gruppe noch mehr Sinn als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Frauen, die unter Migräne mit Aura leiden und hormonelle Kontrazeptiva einnehmen, haben zusätzlich ein deutlich erhöhtes Thromboserisiko. Neurologen gelang es, mit nasalem Ketamin die Schwere von Migräne-Auren verringern, nicht aber deren Dauer. Sie bewerten die randomisierte, kontrollierte Studie als Beweis für glutamaterge Mechanismen – Ketamin wirkt am NMDA-Rezeptor als nicht-kompetitiver Antagonist.
Viele dieser Ansätze erfordern jahrelange Arbeit, bis Neurologen Patienten damit behandeln. Wesentlich konkreter sind entsprechende Leitlinien zur Therapie der Migräne. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie und die Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft haben ihre evidenzbasierten Handlungsanweisungen mittlerweile überarbeitet. In dem Dokument wird gefordert, medikamentöse Therapien grundsätzlich durch Verhaltenstherapie und Ausdauersport zu ergänzen. Verhaltenspsychologische Ansätze machen vor allem bei Patienten mit hochfrequenter Migräne Sinn.