Der Nationale Ethikrat möchte für die genetische Diagnostik eine ärztliche Pflichtberatung einführen. Der frei verfügbare Gentest aus dem Internet wäre damit Geschichte. Müssen wir vor unserer eigenen Biologie geschützt werden?
Endlich. Wir sollen mal wieder vor uns selbst geschützt werden. In schöner Koinzidenz mit dem 60jährigen Jubiläum der Erstbeschreibung der Struktur unserer Erbsubstanz, der DNA, prescht der Nationale Ethikrat mit einer im Auftrag der Bundesregierung verfassten Stellungnahme zur Gendiagnostik vor. Der Titel ist Programm: Die Zukunft der genetischen Diagnostik, heißt das Dokument forsch, gleichsam als gäbe es ohne den Nationalen Ethikrat keine Zukunft der genetischen Diagnostik. Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass die Zusammensetzung des Nationalen Ethikrats unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Realitäten überprüft werden sollte, dann wird er durch dieses Dokument geliefert. Ethikrat sieht großes Informationsdefizit Kern des Papiers, das die Vorsitzende des Ethikrats, Christiane Woopen, als Beitrag zum Patienten- und Verbraucherschutz verstanden wissen möchte, sind 23 Empfehlungen zur genetischen Diagnostik sowie neun separate Empfehlungen zur pränatalen Diagnostik, die hier nicht Thema sind. Unter den 23 Empfehlungen zur genetischen Diagnostik sind viele, über die nachzudenken lohnt. Allen voran machen die Mitglieder des Gremiums die korrekte Beobachtung, dass es zumal im deutschsprachigen Raum keinen Ort im Internet gibt, der über existierende Gentests unter Nennung der Handelsnamen mit einem gewissen Vollständigkeitsanspruch neutral informiert. Hier gibt es ohne Zweifel Handlungsbedarf. Das Problem ist, dass solche durchdachten Empfehlungen eingebettet werden in einen weltanschaulichen Kulturpessimismus, der letztlich darauf hinaus läuft, den Patienten vor sich selbst und den unterstellten Exzessen seiner Arbeitgeber, seiner Versicherungen und von wem noch alles zu schützen, ohne ihn überhaupt zu fragen, ob er geschützt werden möchte. Und weil der Staat zwar irgendwie seine Schäfchen schützen soll, aber dann doch nicht für souverän genug gehalten wird, diesen Schutz praktisch umsetzen, hätte der Ethikrat gerne das Gendiagnostikgesetz dahingehend geändert, dass auch nicht-medizinische Gentests generell eine ärztliche Beratung erfordern, sprich Sequenzierungen des gesamten Genoms und ähnliche Angebote. Gendiagnostik: Nichts Neues unter der Sonne Käme das so, würden Ärzte quasi vom Staat exklusiv ermächtigt, mit Bürgern über deren Biologie zu sprechen, beziehungsweise umgekehrt: Der Bürger würde daran gehindert, sich eigeninitiativ und ungefiltert ein Bild von Teilen seiner Biologie zu machen, zum Beispiel der persönlichen genetischen Risikosituation. Dass das im Vergleich mit der bisherigen Herangehensweise an die menschliche Biologie ein Bruch ist, wird immer dann deutlich, wenn man sich die Mühe macht, die Sätze und Empfehlungen der Stellungnahme des Ethikrats auf konventionelle diagnostische Verfahren hin zu adaptieren. So wird der Wunsch nach einer erzwungenen medizinischen Aufklärung und Beratung bei nichtmedizinischen Gentests vom Ethikrat damit begründet, dass es selbst bei solchen Tests zu medizinisch relevanten Erkenntnissen kommen könnte. Wenn das der Grund für die Änderung des Gendiagnostikgesetzes sein soll: Warum wird dann nicht jeder Verkauf eines Blutdruckmessgeräts an eine Pflichtberatung gekoppelt? Alternativloser Gen-Paternalismus? Tatsächlich wird man bei der Lektüre der Stellungnahme an vielen Stellen das Gefühl nicht los, dass der Ethikrat versucht, sich dem Patienten- und Verbraucherschutz in schöner deutscher Tradition möglichst umfassend zu nähern. Es scheint irgendwie nicht nur darum zu gehen, fachkundige Interpretationshilfe in einem ohne jeden Zweifel hoch interpretationsbedürftigen Bereich zu geben. Es geht auch darum, Grenzen zu ziehen. Und weil es bei einigen dieser Grenzen schwierig bis unmöglich ist, sie rein ethisch zu begründen, wird mit der ärztlichen Beratung ein zusätzlicher Filter eingezogen. Die Gefahr dabei ist, dass die Ärzte einmal mehr ungewollt zu einer Art Transmissionsriemen für politische Weltanschauungen werden. Die Erfahrung zeigt, dass viele Ärzte dieser Rolle nicht abgeneigt sind, kompatibel wie sie ist mit einem umfassenden, „holistischen“ ärztlichen Selbstverständnis. Sie entspringt einer paternalistischen biopolitischen Tradition in Mitteleuropa, die in der angloamerikanischen Literatur teilweise und nur halb ironisch mit „the doctor as the Führer of the patient“ beschrieben wird. Das muss nicht zwangsläufig schlecht sein. Aber wenn eine Instanz wie der Nationale Ethikrat zu mehr genetischem Paternalismus rät, dann klingt es schon immer ein wenig so, als sei ein solches Vorgehen alternativlos. Das ist es nicht. Wer dem Individuum ein wenig mehr zutraut, der schränkt den Zugang zu Gentests genauso wenig ein wie den Zugang zu Blutdruckmessgeräten. Und nein, unbeschränkter Zugang zu genetischen Test ist nicht das Eintrittstor in eine neue Eugenik. Es ist auch nicht das Eintrittstor in eine Welt der totalen Transparenz. Das sind zwei unterschiedliche Baustellen. Der Staat hat und behält alle Möglichkeiten der Welt, per Strafrecht, per Grundgesetz oder wie auch immer bestimmte Einsatzszenarien genetischer Tests zu verbieten bzw. zu sanktionieren. Das geschieht dann in einem parlamentarischen Prozess und als Resultat breiter gesellschaftlicher Diskussionen. Besser als ein räteinduzierter Paternalismus ist das unter anderem deswegen, weil am Ende klare Verantwortliche benannt werden können. Wenn sich Politik und Medizin in die biopolitische Kuschelecke begeben, ist das anders. Und vor Eugenik hat diese Kuschelei in der Vergangenheit auch nicht geschützt Plädoyer für etwas Laissez-faire Völlig unabhängig von solchen Überlegungen gibt es praktische Einwände gegen die genetische Zwangsberatung durch Ärzte in allen Lebenslagen. So ist die genetische Beratung ohne konkreten medizinischen Anlass schwierig, extrem zeitaufwändig und im Ergebnis letztlich für beide Seiten unbefriedigend. Es ist eine Sache, wenn ein Arzt im Rahmen einer Krebstherapie einen Gentest XY empfiehlt. Hier lässt sich konkret beraten. Was aber soll ein Arzt denn sagen, wenn ein Patient aus welchen Gründen auch immer für tausend Euro einen Komplett-Screen seiner genetischen Ausstattung anfertigen möchte? Soll er ihm pauschal davon abraten? Mit welcher Begründung? Und wenn der Patient es trotzdem tut, soll der Arzt dann in der Sprechstunde jedes einzelne Gen mit ihm durchgehen? Als IGeL-Leistung? Der Ethikrat ist sich dieser Problematik offenbar bewusst, liefert aber keine befriedigenden Vorschläge. So wird in der Empfehlung A3 kraftvoll betont, dass jeder (!) Arzt die „Bedeutung genetischer Faktoren bei der Prävention, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen“ kennen müsse. Andererseits wird dann in Empfehlung A7 eingeschränkt, dass sich die konkrete Beratung angesichts der Datenmengen auf „Typen möglicher Ergebnisse“ beschränken kann, „wie zum Beispiel bestimmte Krankheitsgruppen, den Schweregrad, die Behandelbarkeit, die Wahrscheinlichkeit oder den Zeitpunkt des Ausbruchs von Erkrankungen“. Mit anderen Worten: Beraten werden soll nicht über alles, aber letztlich doch über alles. Da erscheint ein Szenario dann doch besser, bei dem einerseits (und wie bisher) bei medizinisch zweifelsfrei indizierten Gentests gezielt beraten, andererseits bei den vielen Gentests, deren Nutzen umstritten ist, ein gewisses Laissez-faire praktiziert wird. Gentests bei erwachsenen Menschen wohlgemerkt, nicht Gentests in der Pränataldiagnostik. Der Nerd, der all seine Gene kennen will, wird im Rahmen eines Screenings erfahren, dass er zum Beispiel über ein Gen verfügt, welches dazu führt, dass Clopidogrel nicht optimal verstoffwechselt wird. Darauf wird er seinen Arzt dann schon ansprechen, falls dieser irgendwann einmal die Indikation für eine Thrombozytenfunktionshemmung sieht. An dieser Stelle ist die gezielte Beratung sinnvoll und zielführend. Am Ende wird der Arzt dann entweder im Einklang mit den aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften doch Clopidogrel geben oder, bei einem besorgten Patienten, auf Prasugrel ausweichen. Das sind dann jene individuellen Entscheidungen, die die Medizin ausmachen. Auch im Zeitalter der Gendiagnostik.