Von Apothekern gehasst und von Politikern teils ohne klare Linie umgesetzt, erreichen Gesundheitsreformen selten ihr Ziel. Deloitte hat jetzt Folgen entsprechender Maßnahmen für das deutsche, brasilianische und chinesische Gesundheitswesen verglichen. Ihre Erkenntnis: Firmen, die global denken und individuelle Chancen nutzen, können nach wie vor profitieren.
In der Vergangenheit war die Welt für pharmazeutische Hersteller klar umrissen: Neue Blockbuster und weitere Absatzmärkte führten zu profitablem Wachstum – Jahr für Jahr. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Länder wie Brasilien, China, Deutschland, England, Frankreich oder die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Absatz durch Gesetzgebungsverfahren substanziell beeinflusst. Ganz klar, typische Reform gibt es nicht. Vielmehr existieren diverse Ansätze vom deutschen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) über den Patient Protection and Affordable Care Act (USA) und den Health and Social Care Act (Großbritannien) bis hin zu chinesischen Regelwerken.
An Ideen mangelt es dabei nicht: Mittlerweile suchen zahlreiche Staaten dem Patentrezept, um trotz demographischer Tendenzen Diagnostik, Therapie und Prävention auch in den nächsten Jahren zu finanzieren. Eine neue Deloitte-/Economist Intelligence Unit-Studie vergleicht Effekte im globalen Kontext und zeigt, wie Firmen reagieren sollten. Dazu wurden rund 295 Führungskräfte weltweit befragt. Sie kommen unter anderem aus der Pharmaindustrie (36 Prozent), arbeiten bei Medizingeräte-Herstellern (20 Prozent) oder im administrativen Dienstleistungsbereich (20 Prozent). Für Deutschland wurde kritisiert, Gesetze und Regularien hätten allein das Ziel, Kosten zu dämpfen. Behörden in Brasilien oder China arbeiten zwar am gleichen Thema, versuchen aber trotzdem, Firmen bei der Erschließung neuer Märkte nicht zu behindern.
In wenigen Jahren wird sich das „Land des Lächelns“ zum weltweit zweitgrößten Pharmamarkt gemausert haben. Einige Gründe: Von 2006 (43 Prozent) bis 2012 (95 Prozent) hat sich die Zahl an Einwohnern mit Versicherungsschutz mehr als verdoppelt. Jetzt sollen Maßnahmen in ländlichen Regionen folgen. Und der berühmt-berüchtigte Fünfjahresplan erwähnt Biotechnologie als strategisch relevanten Industriezweig. Dem gegenüber stehen niedrige Pro-Kopf-Ausgaben von 52 US-Dollar pro Jahr. Selbst unter Annahme optimistischer Wachstumsprognosen kommt die Studie bis 2016 gerade einmal auf 120 US-Dollar. Patentgeschützte Präparate gelten trotzdem als interessant, hier erzielen Hersteller weltmarktübliche Preise. Vor diesem Hintergrund versuchen Ministerien, Kosten zu kontrollieren. Sie haben bereits 2009 bei 300 Arzneistoffen den Preis staatlich festgelegt, mittlerweile befinden sich mehr als 800 Pharmaka auf dieser Liste. Trotzdem dieses Korsetts bewerten Führungskräfte den Markt als interessant – allein schon aufgrund der Größenverhältnisse. Dr. Richard D. Connell, Vice President and Head of Asia Research bei Pfizer (China), erwähnt das besonders günstige Klima für Unternehmensansiedlungen. Bereits im September 2012 hatten Pfizer und Zhejiang Hisun Pharmaceutical Co. Ltd. ein Joint Venture paraphiert.
Am Zuckerhut wiederum gedeihen Märkte mit Generika und Originalpräparaten. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente sind mit 190 US-Dollar pro Jahr bedeutend höher als in China. Auch erwarten Ökonomen in den nächsten vier Jahren insgesamt 14 Prozent Wachstum. Das erklärt, warum Pharmaunternehmen Brasilien in strahlendem Licht sehen. Auch hier gab es eine Reihe von Reformen, um Bürger des Landes lückenlos zu versorgen. Giles Platford, Präsident von Takeda Brazil, sieht als Ergebnis gesetzlicher Maßnahmen vor allem robustere Strukturen für den Marktzugang. Allerdings gibt es Bestrebungen, den Mehrwert innovative Medikamente zu überprüfen und Preise gegebenenfalls zu begrenzen. Hier hat die National Commission for Incorporation of Technologies in the Unified Healthcare System (CONITEC) eine Vorreiterrolle übernommen. Platford bewertet diesen Ansatz positiv, da CONITEC klarere Kriterien und mehr Transparenz geschaffen habe, welche Medikamente verschrieben und damit erstattet werden dürften. Vor allem sei die Mittelschicht interessant; diese kaufe 40 Prozent aller Pharmaka. Kein Wunder, dass weltweit agierende Konzerne jetzt ihre Fühler nach Brasilien ausstrecken. Takeda beispielsweise erwarb Multilab, und Sanofi eignete sich Medley an.
Das AMNOG hat nicht nur Apotheker zur Verzweiflung gebracht. Vielmehr wurden Hersteller nach Jahrzehnten der freien Preisgestaltung sprichwörtlich aus ihrem Paradies vertrieben. Mittlerweile handelt der GKV-Spitzenverband Rabatte auf den Listenpreis neuer Medikamente aus. Auch der Bestandsmarkt bleibt davon nicht verschont. Finden Hersteller keinen Zusatznutzen gemessen an Vergleichstherapien, bleibt es beim Festbetrag. Das haben beispielsweise GlaxoSmithKline (Trobalt), Boehringer Ingelheim (Trajenta) oder Novartis (Rasilamlo) am eigenen Leibe erfahren. Sie zogen entsprechende Produkte vom deutschen Markt zurück. Deutschland, einst Apotheke der Welt, kann plötzlich nicht mehr mit Referenzpreisen für ähnliche Märkte dienen. Engelbert Tjeenk Willink, ehemaliges Mitglied der Unternehmensleitung von Boehringer Ingelheim, kritisiert nicht die Nutzenbewertung an sich, vielmehr sieht er Mängel im bestehenden System. Stein des Anstoßes sind inadäquate Vergleichstherapien. Auch wird der Arzneimittelsicherheit zu wenig Bedeutung beigemessen. Bleibt als Option, neue Dossiers einzureichen, wie kürzlich bei Trobalt geschehen.
Alles in allem sehen sich Industrievertreter mit vielen Problemfeldern konfrontiert. Die Deloitte-Studie nennt zwei Strategien, um trotzdem Land zu gewinnen: An erster Stelle benötigen Firmen globale Strategien für die Vermarktung ihrer Arzneimittel. Auf Einzelmaßnahmen der jeweiligen Gesundheitssysteme zu reagieren, ist für viele der Befragten eine zu kleinteilige Antwort. Beispielsweise bürgern sich mehr und mehr Mechanismen ein, die Nutzen und Vergütung Verbindung bringen. Zwar gelingt es hier und da, Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen –länderübergreifende Tendenzen kann aber niemand mehr aufhalten. Darauf haben einige Hersteller bereits mit der Anpassung von Innovationsprozessen und Marketingmodellen reagiert. Zum Zweiten, heißt es von den Autoren, gelte es, länderspezifische Besonderheiten gewinnbringend zu nutzen. In China lockt beispielsweise der Markt mit verschreibungspflichtigen Produkten, und Neuansiedlungen bieten veritable Chancen. Brasilien setzt eher auf Generika. Für Deutschland kommt die Studie zu einem vergleichsweise harten Urteil. Es könne durchaus „Sinn machen, ein Produkt nicht in diesem Markt zu vertreiben, sollte dies nicht gewinnbringend möglich sein“.