Werden Menschen miteinander intim, sind die Erreger Neisseria gonorrhoeae und Chlamydia trachomatis auch immer häufiger dabei. Bestimmte sexuell übertragbare Krankheiten sind in Deutschland ein zunehmendes Problem. Eine Übersicht der aktuellen Trends.
„Es ist Zeit, das Virus HTLV-1 auszurotten!“, fordert ein 60-köpfiges Team internationaler Wissenschaftler in einem offenen Brief an die WHO. Nach Schätzungen könnten weltweit etwa 20 Millionen Menschen mit dem Humanen T-lymphotropen Virus 1 (HTLV-1) infiziert sein. Lange Zeit war es in Vergessenheit geraten, obwohl das Virus eines der Onkoviren mit der höchsten kanzerogenen Wirkung ist: Bei drei bis fünf Prozent der Infizierten entwickelt sich die aggressive adulte T-Zell-Leukämie mit schlechter Prognose. Die meisten Patienten versterben innerhalb des ersten Jahres nach Diagnosestellung. Professor Dr. Norbert H. Brockmeyer leitet die Interdisziplinäre Immunologische Ambulanz am Walk In Ruhr (WIR) – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin im St. Elisabeth-Hospital Bochum. Pro Monat sehen Brockmeyer und Kollegen etwa 700 Personen zum Ausschluss bzw. zur Therapie von sexuell übertragbaren Krankheiten (STI). Wie schätzt Brockmeyer die Entwicklung von HTLV-1 in Deutschland ein? Und welchen Stellenwert hat es im Vergleich zu anderen STI in Deutschland? DocCheck sprach mit dem Experten darüber, welche Trends im Bereich der STI derzeit relevant sind. Zeitliche Entwicklung der Inzidenz von Syphilis, HIV, Gonorrhhoe und Chlamydien © Brockmeyer
Brockmeyer zufolge seien derzeit vor allem Patienten in Endemiegebieten Australiens, Japans, Afrikas oder Südamerikas von HTLV-1 betroffen. Im Unterschied zu HIV, das sich ab den 1980er-Jahren zur Pandemie entwickelt hat, scheint sich die Zahl an HTLV-1-Infizierten kaum zu verändern. Eine Hypothese lautet, dass sich HTLV-1 weniger effizient verbreitet. Um den aktuellen medialen Hype um HTLV-1-zu erklären, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Robert C. Gallo, ein US-amerikanischer Molekularbiologe, war Mitentdecker des Humanen Immundefizienz-Virus (HIV). Anfang der 1980er-Jahre beschrieb er außerdem das HTLV-1 als Onkovirus mit extrem starker kanzerogener Wirkung. HIV sei durch die Pandemie in unser Bewusstsein gerückt, während man HTLV-1 einfach vergessen habe. Selbst Gallo legte das Forschungsgebiet über Jahre hinweg ad acta. Norbert Brockmeyer © Ruhr-Universität Bochum Dass es plötzlich zum Thema geworden ist, liegt an einer vielzitierten Studie mit australischen Ureinwohnern. Laut der Studie waren je nach Altersgruppe bis zu 48,5 Prozent von ihnen mit HTLV-1 infiziert. Über 20 Prozent aller Infektionen werden über das Stillen übertragen. Etwa 80 Prozent der Betroffenen infizieren sich über ungeschützten Geschlechtsverkehr, in seltenen Fällen durch Organspenden, Bluttransfusionen oder verunreinigte Spritzen bei Drogenkonsumenten. In Deutschland seien Infektionen allerdings sehr selten. „Bei uns ist HTLV-1 zurzeit kein Problem, auch nicht bei Personen mit hohem Risiko für sexuell übertragbare Erkrankungen“, so Brockmeyer. Der Experte sieht im Unterschied zu anderen STI das Virus in nächster Zeit hierzulande nicht als Bedrohung an.
HIV sollten Ärzte nach wie vor Aufmerksamkeit schenken. „Bei uns sind die HIV-Infektionen zwar etwas rückläufig“, so Brockmeyer. In den letzten Jahren seien jedoch neue Entwicklungen zu beobachten: Bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), ist die Zahl von 2.500 (2013) auf 2.100 (2016) zurückgegangen. Allerdings infizierten sich zuletzt sich fast doppelt so viele heterosexuelle Frauen oder Männer wie im Jahr 2010. Laut RKI-Statistik haben sich in 2016 etwa 3.100 Menschen mit HIV neu angesteckt. Brockmeyer erklärt die zwiespältige Entwicklung einerseits mit hervorragenden antiretroviralen Therapien. Die enthaltenen Wirkstoffkombinationen senken die Viruslast so stark, dass Partner HIV-positiver Menschen selbst bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht mehr infiziert werden. „Außerdem gehören Deutschlands Aufklärungskampagnen zu den besten weltweit“, so Brockmeyer. Dem stünden riskantere sexuelle Praktiken bei Heterosexuellen gegenüber. „43 Prozent aller Frauen hatten bis zum 27. Lebensjahr bereits Analverkehr mit höherem Infektionsrisiko“, gibt er zu bedenken. Das sei vor 30 Jahren undenkbar gewesen. Brockmeyer bewertet pharmakologische Präexpositionsprophylaxen (PrEP) als „wichtigen Schritt“ und erwartet mittelfristig rund 20 Prozent weniger HIV-Neuinfektionen pro Jahr durch diese Strategie. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte diesbezüglich kürzlich konkrete Pläne an: Er wolle dafür sorgen, dass „Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko einen gesetzlichen Anspruch auf ärztliche Beratung, Untersuchung und Arzneimittel zur Präexpositionsprophylaxe erhalten“. Das reiche nach Brockmeyer zur Prophylaxe allerdings nicht aus: „Man muss die Menschen gut begleiten, damit sie ihre Medikamente richtig einnehmen.“ Ansonsten könne das im Extremfall dazu führen, dass sie sich in falscher Sicherheit wähnten. „Unter diesen Voraussetzungen ist die PrEP eine wunderbare Maßnahme, Patienten mit hohem Risiko zu schützen.“ Andere Länder hätten im Vergleich zu Deutschland Probleme im weitaus größeren Umfang . „In Osteuropa nimmt die Zahl an HIV-Neuinfektionen kontinuierlich zu.“ Um Erfolg bei Präventionsmaßnahmen zu haben, sei eine offene Ansprache Betroffener erforderlich. „In Russland oder in der Ukraine sieht es schlecht aus – hier werden Menschen mit HIV ausgegrenzt und massiv stigmatisiert.“
Anders sieht die Entwicklung bei Chlamydien, der häufigsten STI in Deutschland, aus. Brockmeyer zufolge seien zehn Prozent aller jungen Frauen unter 26 Jahren infiziert. Das RKI nennt als Gesamtprävalenz bei Frauen 3,8 Prozent und bei Männern 11,8 Prozent. Allerdings schwankte der Prozentsatz regional zwischen 3,1 Prozent (Baden-Württemberg) und 17,8 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern). Die meisten Fälle werden beim Schwangerschaftsscreening entdeckt. „Chlamydien sind also in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen“, kommentiert Brockmeyer. Aktuell sehe es von der Entwicklung her zwar stabil aus. „Allerdings hatten wir in den letzten zehn Jahren einen Anstieg um 100 Prozent.“ Valide Daten existieren nur in Sachsen aufgrund der regionalen Meldepflicht: Zwischen 2003 und 2012 kam es zu einem Anstieg von 26 auf 102 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Die Bakterien führen bei Frauen zu chronischen Unterbauchschmerzen und im Extremfall zu Unfruchtbarkeit. Unbehandelt steigt das Risiko für Tubargraviditäten oder ektope Schwangerschaften. Beim Mann sind Entzündungen von Harnleiter, Blase oder Prostata möglich. Zur Therapie setzen Ärzte vor allem Tetracycline ein.
Neben Chlamydien nehmen auch Infektionen mit Neisseria gonorrhoeae einen hohen Rang auf der Liste der häufigen STI ein. Valide Daten für Deutschland gibt es nicht. Eine Infektion ist nur in Sachsen meldepflichtig. Hier wurde allerdings eine Verdoppelung der Fälle beobachtet: Die Zahl der gemeldeten Gonokokken-Infektionen stieg von 6,8 Neuinfektionen (2003) auf 13,7 (2011) pro 100.000 Einwohner. Der Keim führt meistens zu Entzündungen des Urogenitaltrakts. Bei Frauen kann es bei einer Infektion im ersten Trimenon zum Verlust des Fötus kommen. Durch den unkontrollierten Einsatz von Antibiotika nimmt die antibiotische Resistenz von Neisseria gonorrhoeae weltweit seit Jahren zu. Aus diesem Grund wurde GORENET, ein Netzwerk von Forschungslabors, gegründet. Ersten Ergebnissen zufolge stabilisiert sich bei Ceftriaxon die Resistenzlage auf niedrigem Niveau (0,5 Prozent). Bei Azithromycin sank der Wert zwischen 2015 und 2016 von 11,3 auf 2,2 Prozent, und bei Cefixim von 13 auf ein bis drei Prozent. Das liegt vor allem daran, dass die Empfehlung der Leitlinie, Ceftriaxon und Azithromycin gemeinsam zu verordnen, weitestgehend erfolgreich umgesetzt wurde. Ciprofloxacin (68,1 Prozent Resistenz in 2014 versus 57,9 Prozent in 2016) sowie Penicilline (20,3 Prozent in 2014 versus 16,5 Prozent in 2016) bleiben im Hinblick auf Resistenzen problematisch.
Auch bei beim Syphilis-Erreger Treponema pallidum gibt es aktuelle Entwicklungen. Hier besteht eine bundesweite Meldepflicht. Zwischen 2005 und 2008 stabilisierte sich die Zahl an Neuinfektionen bei 3.000 bis 3.500 pro Jahr. Der Trend ebbte allerdings bald wieder ab: Ab 2010 ging die Kurve wieder nach oben. In 2015 waren es 6.834 Fälle, das sind 19 Prozent mehr als im Vorjahr. 2017 stieg die Fallzahl weiter auf 7468 Infizierte. Zwischen 2009 und 2015 war der Zuwachs enorm – insgesamt bei 149 Prozent. 94 Prozent aller Diagnosen stellen Ärzte bei Männern, wobei die Gruupe der MSM das größte Risiko haben. In dieser Gruppe treten rund 80 Prozent aller Neuinfektionen auf. Unbehandelt kommt es zu Schäden der Haut, des Herz-Kreislauf-Systems beziehungsweise der Nerven. Antibiotika wie Benzathin-Benzylpenicillin sind Mittel der Wahl.
Auch bei Humanen Papillomaviren (HPV) ist die Prävalenz unverändert hoch. Nach Daten des RKI sind 35 % der Frauen im Alter von 20 bis 25 Jahren mit einem onkogenen HPV-Typen infiziert. Brockmeyer kritisiert: „Wir impfen trotzdem nicht ausreichend, obwohl wir wissen, dass auch nicht im Impfstoff enthaltene HPV-Typen mitunter auftreten und sogar nicht Geimpfte profitieren“. HPV führen je nach Genotyp zu Genitalwarzen, zervikalen intraepithelialen Neoplasien, zu Zervix-, Anal- oder Peniskarzinomen und immer öfter zu Karzinomen des Hals-Rachen-Raums. Nach Änderungen der STIKO-Empfehlung haben sowohl Jungen als auch Mädchen zwischen neun und 14 Jahren Anspruch auf die Impfung. „Wir müssten auch Menschen bis 40 Jahren impfen, falls sie ein hohes Risiko für HPV-Infektionen haben und HPV-seronegativ sind“, sagt der Experte. Diese Empfehlung gebe es beispielsweise in Großbritannien. Als weiteres Problem nennt Brockmeyer eine zu beobachtende Impfmüdigkeit der Deutschen. RKI-Angaben zufolge hatten zuletzt 44,6 Prozent aller 17-Jährigen den vollständigen Schutz. In Norwegen sind es 83 Prozent, in Schweden 77 Prozent und in Portugal 83 Prozent. Solche Zahlen wären auch bei uns möglich: In Südhessen gehen Ärzte seit mehr als zwei Jahren durch die Schulen und informieren über die Impfung. „Damit ist es gelungen, die Impfquote von 22 auf 80 Prozent zu steigern“, erzählt Brockmeyer. Das Modellprojekt soll auf ganz Hessen ausgedehnt werden. Langfristig sei bei HPV mit einem Rückgang zu rechnen, das kann aber noch dauern.
Forscher des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) bestätigen in einer älteren Analyse Trends aus Deutschland auch für die EU. Mit 385.000 Fällen bleiben Chlamydien die häufigste sexuell übertragene Infektion. Hier haben sich die Zahlen auf hohem Niveau stabilisiert. Relative Zuwächse gibt es vor allem bei Gonorrhoe. Zwischen 2008 und 2013 ist die Zahl an Neuinfektionen um 79 Prozent gestiegen, vor allem bei MSM (plus 95 Prozent). Diese Trends spiegeln sich weltweit im „WHO-Report on global sexually transmitted infection surveillance“ wider – mit zwei Ausnahmen: Trotz großer Erfolge der letzten Zeit bleibt HIV in vielen Ländern Osteuropas, Asiens und Afrikas eine große Herausforderung. US-Experte Mark Dybul sprach bei der letzten Welt-AIDS-Konferenz von einer „Krise historischen Ausmaßes". Und in tropischen Ländern ist die Prävalenz von Trichomonas vaginalis deutlich höher als bei uns. Das Protozoon führt bei Frauen zu übelriechendem, gelb-grünlichem vaginalem Ausfluss. Bei Männern kommt es zur Urethritis, Epididymitis oder Prostatitis. Viele Patienten haben keine Beschwerden, übertragen den Erreger jedoch trotzdem. Als Therapie setzen Ärzte Metronidazol ein.
Zuletzt ein Blick zurück auf Deutschland. Welche Maßnahmen sind bei uns in den nächsten Jahren erforderlich, um STI besser in den Griff zu bekommen? „Wir müssen in die Schulen gehen und mit jungen Menschen sprechen“, so Norbert Brockmeyer. Gleichzeitig setzt er auf Online-Risikotests, auf anonyme Benachrichtigungen von Sexualpartnern, um nach dem Verkehr auf eigene Erkrankungen hinzuweisen oder auf Youtuber, um Jugendliche anzusprechen. Vorteile sieht er auch in Projekten wie „S.A.M Mein Heimtest“. Patienten schicken Blut, Abstriche oder Urin selbst an ein Labor. Ihre Proben werden auf HIV, Syphilis, Chlamydien und Gonokokken getestet. Resultate gibt es per SMS – inklusive des Angebots, sich telefonisch beraten zu lassen. Ähnliches gebe es unter anderem auch vom WIR und von der AIDS-Hilfe NRW. Die Angebote sind bei schambehafteten Erkrankungen im ersten Schritt für Patienten oft angenehmer als Arztbesuche. Und wer von der eigenen Erkrankung weiß, schlägt viel eher den Schritt in Richtung Praxis ein.