Wie behandelt man Augenverätzungen? Früher galt: alles was man trinken kann, eignet sich zur Augenspülung. Doch es herrscht in Deutschland keine Einigkeit darüber, womit gespült werden soll. Die Liste ist lang, was wirkt am besten: Wasser, Kochsalzlösungen oder gibt es andere Alternativen?
Unter allen Augenverletzungen machen Verätzungen 7,7 bis 18 Prozent aus. Die Unfälle können im Labor, im Haushalt durch Reinigungsmittel oder bei Reparaturarbeiten am Auto mit Batteriesäure passieren. Eine Auswertung der Unfallanzeigen der Steinbruchs-Berufsgenossenschaft ergab, dass 56 Prozent der verletzten Mitarbeiter keine Schutzbrille trugen. Statistisch betrachtet sind die Unfallopfer meist junge Patienten und Verätzungen mit Laugen sind häufiger als mit Säuren.
Das Ausmaß der Schädigung ist abhängig von der Art und Konzentration des Ätzmittels, der Temperatur und der Kontaktdauer zum Gewebe. Ätzungen und Reizungen können hervorgerufen werden durch:
Verätzungen mit Laugen sind schwerwiegender als mit Säuren. Eine Lauge reagiert mit Fett zu einer Seife. Diese so genannte Kolliquationsnekrose führt dazu, dass die Hautzellen quellen, auseinanderweichen und das Ätzmittel sehr tief eindringen kann. Die Hornhaut trübt ein und die Schädigung des vaskulären Endothels der Gefäße führt zu Thrombosen und Ischämie. Eine irreversible Gewebeschädigung tritt bei einem pH-Wert von 11,5 und höher ein. Der pH-Wert des Kammerwassers steigt innerhalb von wenigen Sekunden an. Rasch werden so auch intraokulare Strukturen wie Iris, Linse und Ziliarkörper geschädigt. Säuren fällen das Eiweiß der (Schleim-)Haut. Diese Denaturierung führt dazu, dass sich eine Art Schutzschicht bildet, die als Koagulationsnekrose bezeichnet wird. Sie bewirkt, dass die meisten Säuren langsamer und nicht so tief in das Gewebe eindringen können. Eine Ausnahme bilden hier die Fluss- und die Schwefelsäure. Konzentrierte Schwefelsäure entzieht der Haut immense Mengen an Feuchtigkeit und reagiert exotherm. Flusssäure, die zum Ätzen von Glas verwendet wird, bildet ebenfalls wie Laugen eine Kolliquationsnekrose und dringt deshalb sehr tief in Gewebeschichten.
Das Alkaloid Capsaicin ist der Inhaltstoff aus Paprikaarten und Bestandteil von zur Abwehr eingesetztem Pfefferspray. Das "Brennen" beim Kontakt mit Capsaicin ist eine "thermische Täuschung". Das Gefühl der starken Wärmeentwicklung auf Haut- und Schleimhaut entsteht durch eine Einwirkung auf die Nervenendigungen, die Wärmereize aufnehmen und weiterleiten. Capsaicin wirkt am Vanilloid-Rezeptor und beeinflusst dort Calciumionenkanäle, dadurch kommt es zum Schmerzreiz. Beim scharfen Essen werden die Nervenendigungen und nicht die Geschmacksnerven der Zunge beeinflusst. Im Gegensatz zu anderen "Scharfmachern" wie Pfeffer oder Ingwer hält das "Brennen" sehr lange an. Dies liegt einerseits am Wirkmechanismus, andererseits an der hohen Fettlöslichkeit. Der Pharmakologe Wilbur Scoville beschrieb in einem Artikel in "The Journal of the American Pharmacists Association" die Möglichkeit zur Bestimmung des Capsaicin-Gehalts durch Verdünnen und Verkosten. Versuchspersonen mussten immer weiter verdünnte scharfe Lösungen probieren und dokumentieren, ab wann sie keine Schärfe mehr wahrnahmen.
Der Grad der Verdünnung, bei dem keine Schärfe mehr festzustellen ist, wird als Scoville-Grad (SCU für Scoville Units) angegeben. Paprika ohne feststellbare Schärfe hat den Scoville-Grad 0, reines Capsaicin zwischen 15.000.000 und 16.000.000 Scoville. Das bedeutet, dass für einen Milliliter reinen Capsaicins 15–16 Millionen Milliliter Wasser (= 15.000 Liter / 15 m3) benötigt werden, um keine Schärfe mehr festzustellen. Tränengase mit Capsaicin unterliegen dem kleinen Waffengesetz, dürfen nur von der Polizei oder von Privatpersonen ausschließlich gegen Tiere eingesetzt werden. In einigen Ländern ist der Einsatz vollständig verboten. Schweden hat auf die Einführung von Pfefferspray mit der Begründung verzichtet, sein Einsatz könne zu schweren Schädigungen der Hornhaut führen. In den USA sind zwischen 1990 und 1995 61 Todesfälle durch Capsaicin oder seine synthetische Variante dokumentiert. Fettlösliche Stoffe wie Pfefferspray haben die Eigenschaft, dass sie sich mit Wasser oder Salzlösungen nur unzureichend aus dem Auge entfernen lassen. Lediglich polyvalente Lösungen sind hierzu in der Lage.
Bei Verätzungen des Auges bestimmt die Schnelligkeit und Effizienz der Spülung maßgeblich die Prognose des Patienten. Vor jeder Augenspülung muss unbedingt eine Lokalanästhesie erfolgen. Dazu wird die Lösung eines geeigneten Präparates auf das geschlossene Auge geträufelt. Sie unterkriecht das Lid und führt rasch zu einer Schmerzfreiheit. Erst so wird eine Spülung ermöglicht. Auch Lidocaininjektionslösung kann grundsätzlich verwendet werden. Sie erfüllt zwar nicht die strengen Anforderungen, die an die Sterilität und den pH-Wert von Augenarzneien gestellt werden, aber die Rettung des Augenlichtes sollte im Vordergrund stehen. Für eine Spülung stehen verschiedene Mittel zur Verfügung
Die Empfehlungen zur Ersttherapie der Augenverätzung durch Spülen mit Wasser, steriler Salzlösung und Phosphatpuffer beruhen auf Erkenntnissen von Creutzburg bereits aus dem Jahr 1953. Das Aachener Centrum für Technologietransfer in der Ophthalmologie (ACTO) erforschte in Kooperation mit dem Verbrennungszentrum am Klinikum Köln-Merheim und der Universitätsaugenklinik Aachen intensiv Mechanismen und neue Therapiekonzepten zur Augenverätzung. Prof. Dr. N. F. Schrage und Mitarbeiter untersuchten alle gängigen Spüllösungen und hinterfragten deren Eignung kritisch. Verändert die Spüllösung die Osmolarität im Auge, kann dies zu einem Schrumpfen oder Platzen der Zellen führen. Bei hohen Salzkonzentrationen können Proteine durch sukzessiven Wasserentzug aussalzen und damit zu einem Funktionsverlust führen. Eine rasche Veränderung der Osmolarität wie bei einer Kochsalzspülung oder Ringer-Lactat-Spülung führt zu vermehrt platzenden Zellen und damit zu einer Verstärkung des Schadens. Bei einer Spülung mit Wasser ist dieser Effekt noch stärker. Augenspüllösungen sind im Vergleich zur gesunden Hornhaut meist isotonisch (0.4 Osmol/kg). Leitungswasser ist mit 0 Osmol/kg stark hypoosmolar, andere Substanzen wie Previn® sind hyperosmolar (0.8 Osmol/kg). Wird mit einer isotonen Lösung lange gespült, eliminiert man war den Ätzstoff, kann aber durch die Quellung zu Schädigungen des Epithelgewebes beitragen. Dadurch sind irreversible Störungen möglich. Pufferlösungen (Isogutt ®) sind in der Lage, ein Vielfaches ihrer Volumenmenge an Wasser zu ersetzen. Isotone Lösungen ohne Puffereffekt (Isogutt akut ®) vermögen dies nicht. Polyvalente Lösungen wie Previn ® sind erheblich wirksamer. Sie verfügen über einen ausgeklügelten Wirkmechanismus, der bewirkt, dass Ätzmittel aller Art neutralisiert und somit Schäden verhindert werden. Die Lösung agiert als chelatbildendes, amphoteres Molekül. Es stehen auch Zubereitungen für die Ganzkörperdekontamination zur Verfügung. Ein weiterer Vorteil ist, dass auch fettlösliche Reizstoffe wie Pfefferspray damit aus dem Auge entfernt werden können. In anderen Ländern ist es üblich, dass die Polizei nicht nur Pfefferspray mitführt, sondern auch Previn ® als Gegenmittel bereit hält. Neue Erkenntnisse und neue Spüllösungen machen ein Umdenken in der Therapie der Augenverätzungen notwendig.