Eine experimentelle Studie der Johannes Gutenberg Universität (JGU) Mainz untersuchte, ob mediale Berichterstattung über elektromagnetische Felder bei vorbelasteten Menschen Krankheitssymptome auslösen kann, obwohl es dafür keine objektive Grundlage gab.
Häufig berichten Medien über Nahrungsmittel-, Chemikalien- und Umweltgift- Intoleranzen bzw. Idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeiten gegenüber elektromagnetischen Feldern (IEI-EMF). Menschen, die unter elektromagnetischer Hypersensitivität leiden, laborieren unter den unterschiedlichsten unspezifischen, physischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Hautbrennen oder Kribbeln, welche durch Handys, Hochspannungsleitungen und WLAN-Netzwerken verursacht werden können. Häufig führen diese Symptome dazu, dass sich die Betroffenen aus ihrem angestammten sozialen Umfeld zurückziehen oder im schlimmsten Fall sogar ihren Wohnort wechseln, um sich der Exposition von elektromagnetischen Strahlen zu entziehen. Bisherige Studien weisen darauf hin, dass diese Symptome auf den so genannten Nocebo-Effekt zurückzuführen sind. "Nach dieser Theorie können Ängste betreffend elektromagnetischer Feldern sowie die vorhandene Erwartung, dass die Symptome durch elektromagnetische Stimuli ausgelöst werden, negative körperlichen Reaktionen herbeiführen", berichtet Diplompsychologe und Studienleiter Dr. Michael Witthöft von der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der JGU Mainz. Bisherige doppelt veblindete Provokationsstudien haben gezeigt, dass die Probanden nicht unterscheiden konnten, ob ihre Symptome durch einen tatsächliche bestehenden elektromagnetischen Auslöser oder durch Schein-Wellen (sham exposure) verursacht wurden. Außerdem gebe es einige Anzeichen dafür, dass der Nocebo-Effekt häufiger bei Personen auftritt, die bereits an einer bestehenden Somatisierung leiden.
Für die kürzlich im Journal of Psychosomatic Research veröffentlichten experimentellen Studie wurden 147 Probanden im Alter von 19 bis 68 Jahren am Londoner King´s College nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen geteilt. Die Testpersonen wurden informiert, dass sie sich jeweils einen Film ansehen sollten, um nachher darüber Fragen zu beantworten. 76 von ihnen sahen eine neunminütige BBC-Doku über die dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen von Mobiltelefonie und WLAN-Signalen. Die Dokumentation beinhaltete Statements von betroffenen Wissenschaftlern und Regierungsmitgliedern, die vor möglichen Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit Mobiltelefonie und WLAN-Signalen warnten. Auch Personen, die unter elektromagnetischer Hypersensitivität litten, wurden befragt. 71 Personen verfolgten einen gleich langen BBC-Bericht über die Sicherheit von Internet- und Handydaten ohne gesundheitliche Aspekte. Anschließend wurden die Testpersonen einem 15 minütigen WLAN-Scheinsignal ausgesetzt. Die Forscher setzten beide Gruppen vor einen Bildschirm, auf dem ein großes WLAN-Symbol blinkte. Danach mussten sie einen Fragebogen beantworten, inwiefern ihre Symptome und Erfahrungen durch elektromagnetische Felder beeinflusst wurden. 86,4 Prozent der Befragten gaben an, dass sie glaubten einem WLAN-Signal ausgesetzt gewesen zu sein, 82 Testpersonen (54%) klagten über Beunruhigung, Kribbeln in den Extremitäten, Konzentrationsbeeinträchtigungen und Beklemmung, zwei Probanden brachen den Test ab, weil sie so starke Symptome zeigten, dass sie sich keiner weiteren (Schein-)Strahlung aussetzen wollten.
Dass die körperlichen Beschwerden bei den Betroffenen tatsächlich existierten, zeigten bisherige Untersuchungen mittels Kernspintomographie: Die schmerzverarbeitende Gehirnregion war tatsächlich aktiviert. Nur vier Probanden gaben an, dass sie keinem Signal ausgesetzt waren. Weiteres ergab die Studienauswertung, dass Personen, die von Haus aus unter Ängstlichkeit litten und den Dokumentarfilm über gesundheitliche Gefahren von EMF verfogten, die stärksten Symptome zeigten. "Während bisherige Studienergebnisse belegen, dass Medienberichte über neue gesundheitliche Bedrohungen kurzfristige negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden verursachen, lässt unsere Studie auch langfristige Effekte vermuten: Teilnehmer, die ihre Symptome auf die Scheinwellen zurückführten, glaubten stärker auf EMF zu reagieren, wenn Sie vorher die BBC-Doku verfolgt haben", berichtet Witthöft. Wenn die Probanden danach über die Scheinwellen nicht aufgeklärt worden wären, hätten künftige elektromagnetische Stimuli mit einer höheren Wahrscheinlichkeit negative gesundheitliche Symptome augelöst, vermuten die Studienautoren.
Die gewonnen Studienergebnisse bestätigen, dass Medienberichte über vermeintliche Gesundheitsgefahren die Wahrscheinlichkeit verstärken können, dass bereits vorbelastete Personen anfälliger sind, bestimmte Krankheitssymptome und eine erhöhte Sensitivität zu entwickeln. "Daher können wir die Wissenschaftler nur auffordern auf diesem sensiblen Gebiet verstärkt mit den Medien zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass Berichte über mögliche gesundheitliche Auswirkungen neuer Technologien nach aktuellstem Wissensstand und so wahrheitsgetreu wie möglich an die Öffentlichkeit gelangen“, betont Witthöft.
Der Begriff "nocebo" bezeichnete ursprünglich den negativen Gegenpart von Placeobphänomenen und wurde verwendet, um unerwünschte von erwünschten Wirkungen eines Placebos (Scheinmedikament bzw. Scheinintervention) abzugrenzen. Heute werden beide Begriffe in einem weiteren Sinn verwendet: Nichtspezifische Effekte einer medizinischen Behandlung werden als Noceboeffekte bezeichnet, wenn sie schädlich sind, und als Placeboeffekte, wenn sie nützlich sind. Unter "Nocebo-Effekt" versteht man Beschwerden und Symptomverschlimmerungen, die unter einer Scheinbehandlung und/oder durch gezielte oder unbeabsichtigte Suggestionen und/oder negative Erwartungen entstehen. Zu den häufigsten Symptomen zählen Kopfschmerzen, Übelkeit, brennende oder kribbelnde Haut, Beklemmung und Unwohlsein. Wie sich der Nocebo-Effekt im Gehirn auswirkt, ist noch nicht vollständig erforscht. Es wird aber vermutet, dass der Botenstoff Cholextokinin, der in der Darmschleimhaut entsteht und bei Phobien eine wichtige Rolle einnimmt, im Gehirn Schmerzreaktionen hervorruft. "Wer sich Schmerzen einbildet, wird früher oder später auch welche haben“, erklärt Prof. Dr. Arne May vom Institut für systemische Neurowissenschaften des Hamburger Universitätsklinikum (UKE). Dies sei eine Art Gegenstück zum Placebo-Effekt, bei dem sich Patienten, die ein wirkstoffloses Placebo erhalten, "gesund denken". In der Studie „Insular Cortex Acitivity is Associated with Effects of Negative Expectation on Nociceptive Long-Term Habituation“ stellten die Wissenschaftler anhand von funktionellen Bildgebungsverfahren fest, dass ein Teil der Inselrinde im Gehirn das subjektive Schmerzerlebnis von Patienten signifikant beeinflusste. Mit der Studie stellten die Mediziner unter Beweis, dass sich bereits eine einmalig erfolgte (negative) Information auf das Schmerzempfinden von mindestens einer Woche auswirkte.