Schon im Jahr 2000 sollte das Virus eigentlich nicht mehr existieren. Dennoch wehrt sich Polio hartnäckig gegen seine Ausrottung. Mit neuen Impfstoffen und einer aufwändigen Strategie wollen WHO und UNICEF die Kinderlähmung auch aus den entlegensten Winkeln der Erde vertreiben.
Es waren beunruhigende Nachrichten, die am 11. Mai von der Welt -Gesundheitsorganisation WHO kamen. In Somalia sei die Kinderlähmung wieder ausgebrochen. Der Poliovirus vom Typ 1 nistete sich in einem 32 Monate alten Mädchen ein und verursachte eine zeitweise Lähmung. Noch in der gleichen Woche wurden in Somalia 350 000 Kinder geimpft. Denn die Gefahr, dass die Krankheit in dem Land wieder Fuß fasst, ist groß. Seit 2007 wurde kein Krankheitsfall mehr gemeldet, seit 2009 nicht regelmäßig und großflächig geimpft. Einige Tage später meldete auch Kenia im Norden des Landes einen Polio-Fall. Große Erfolge am Anfang - und dann? Zwischen 1988 und dem Jahr 2000 hat die Zahl der Poliokranken weltweit um mehr als 99 Prozent abgenommen. Noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es kein ungewöhnliches Bild, wenn in den Schulklassen auch in Europa nach den Ferien viele Plätze dauerhaft leer blieben, weil Poliomyelitis damals noch hunderttausende von Kindern zeitweise oder dauerhaft lähmte oder gar in den Tod schickte. 1988 war das Virus in 125 Ländern der Erde heimisch. Doch die rund 200 Fälle aus dem Jahr 2012 auf Null zu drücken, erweist sich als außerordentlich schwierig. Dabei ist es nicht immer das Virus selber, das Schwierigkeiten verursacht.
Das Stückchen Zucker mit dem oralen Poliovakzin erwies sich anfangs als überaus erfolgreich. Seit vielen Jahren sind Europa, Süd- und Nordamerika und Australien poliofrei. Die im Jahr 1988 gegründete Initiative zur globalen Ausrottung des Virus (GPEI) hatte sich daher ehrgeizige Ziele gesetzt. Noch vor dem Jahr 2000 sollten die die letzten Kinder der Erde Kontakt mit dem Virus haben. Das Ziel war aber wohl etwas zu ehrgeizig, ebenso wie die darauf folgenden Fristen von 2005 und 2012. "Ist das Ziel überhaupt zu verwirklichen?", fragen sich deshalb viele, insbesondere angesichts der Milliardenbeträge, die nicht nur von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung stammen und Impfstoffe, Kampagnen und Personal finanzieren müssen.
Inzwischen gibt es nur mehr drei Länder, in denen das Virus heimisch ist. Pakistan, Afghanistan und Nigeria. Entgegen allen Unkenrufen gelang es den Gesundheitsbehörden, die Krankheit dagegen aus einem "schwierigen" Land zu vertreiben, das mit großen Problemen bei Hygiene und hoher Bevölkerungsdichte zu tun hat. Im Februar 2012 wurde Indien als frei von Polio erklärt. Während auch Pakistan sinkende Fallzahlen berichtet, steigt die Zahl der Erkrankungen in Afghanistan wieder an. Das Problem liegt jedoch nicht nur in den betreffenden Ländern selber. Mehr als die Hälfte der Erkrankungen tauchen in Ländern auf, in denen das Virus nicht mehr vorkommt, die jedoch darunter leiden, dass Zuwanderer den Erreger einschleppen. Beispiele dafür sind etwa Ägypten, wo sich Anfang dieses Jahres plötzlich Viren im Abwasser fanden, Tschad und Kongo, beide nicht weit weg von Nigeria, oder Tadschikistan, das im Jahr 2010 29 Todesfälle registrieren musste. Inzwischen hat Pakistan begonnen, ausreisende Kinder an seinen Flughäfen vorsorglich zu impfen.
Im Fokus der Aktionen gegen die letzten Rückzugsgebiete sind daher insbesondere Wanderarbeiter und Nomaden, die des Öfteren auch unkontrolliert Staatsgrenzen überqueren. Auch mit ethnischen Minderheiten und Bevölkerungsgruppen, die in schwer erreichbaren Gebieten leben und wenig Kontakt zu öffentlichen Versorgungseinrichtungen haben, tun sich die Helfer bei der Polio-Impfung schwer. Schließlich gibt es auch noch religiöse und politische Widerstände gegen die Immunisierung. So soll sich ein Aktionskommando im Dienst der USA beim Aufspüren von Osama bin Laden als Impfpersonal getarnt haben. Die Wut in Teilen der Bevölkerung entlud sich im Mord mehrerer Beauftragter der Anti-Polio-Initiative. Auch in Nigeria griffen militante Muslime medizinisches Personal an. Daher trafen sich im März islamische Gelehrte in Ägypten, um Angehörige ihrer Religionsgruppe vom Sinn der Impfung gegen die Krankheit zu überzeugen.
Je nach Bevölkerungsgruppe sind unterschiedliche Impfquoten notwendig, um den notwendigen Herdenschutz zu gewährleisten. In Asien sollten mindestens 95 Prozent der Kinder eine Immunität aufbauen, in den Regionen südlich der Sahara reichen dagegen 80-85 Prozent. In den unsicheren und abgelegenen Regionen Afghanistans versucht die Ausrottungs-Initative, die betroffenen Gebiete mit niedriger Impfquote quasi einzukesseln und zumindest die Bevölkerung darum herum mit Impfschutz zu versorgen.
Die GPEI kämpft gegen die letzten Polio-Überbleibsel aber nicht nur um "Gebietsgewinne", sondern auch gegen die Tücken der Poliovakzine selber. In den meisten Ländern der Erde erhalten Kinder das orale Vakzin mit den attenuierten Viren der Typen 1, 2 und 3. In seltenen Fällen (ca 1:750 000 Geimpfte) kommt es jedoch zum Krankheitsausbruch durch das Impfvirus selber, das durch Mutation und Rekombination mit anderen Enteroviren wieder zu einem aggressiven Erreger wird. Ein Großteil der Poliofälle geht inzwischen auf die rekombinanten Impfviren zurück. Vielfach kam es auf diese Weise zu einer Infektion mit dem Typ 2, obwohl dieser als Wildtyp bereits vor mehr als 10 Jahren ausgestorben ist. In den Industrieländern hat daher ein Vakzin mit inaktivierten Viren den oralen Impfstoff abgelöst. Allerdings verursacht die Herstellung dabei deutlich höhere Kosten. Aber auch dieser Weg bietet nicht nur Vorteile: Durch die Injektion entsteht zwar eine starke Abwehrreaktion, die den Geimpften schützt, jedoch die den möglichen Durchmarsch der Viren durch den Darm nicht verhindert. Der Betroffene kann somit den Virus weiterhin übertragen.
Vor einigen Wochen veröffentlichte GPEI einen erneuerten Plan, der spätestens 2018 das Ende der Kinderlähmung herbeiführen soll. Die letzten Polio-Wildtyp-Viren sollen dann mit intensiven Kampagnen bereits 2015 verschwinden. Die trivalenten oralen Vakzine werden danach bis 2016 durch ein wirksameres bi- oder monovalentes Vakzin ersetzt. Um aber sicher zu gehen, dass es nicht zu einem erneuten Ausbruch eines rekombinanten Typ-2-Virus kommt, soll eine Dosis des Totvirus-Vakzins die Kinder schützen. Allerdings erfordert diese Aufgabe erfahrenes Personal und eine gute Logistik für den weniger stabilen Injektions-Impfstoff. In Deutschland ist die Impfrate mit rund 95 % so hoch, dass das Poliovirus keine Chance hat. Allerdings könnte sich das mit einem Ende der Polio-Impfung auch hier schnell ändern. Weltweit, so schätzen Experten, würden ohne die Massenimpfungen in den nächsten zehn Jahren wieder fast eine viertel Million Erkrankungen auftreten.
Ist es wirklich erstrebenswert, den Kampf bis zum Tod des letzten Virus zu führen? Immerhin müssen dafür rund 250 Millionen Kinder mehrmals im Jahr erreicht und geimpft werden. Die Kosten dafür liegen bei rund 800 Millionen Euro pro Jahr. Sogar Peter Horton, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Lancet“, ist nicht vom Sinn dieser riesigen Investition überzeugt: "Die Gesundheit der Welt hängt nicht von der Polio-Ausrottung ab." Nicht zu übersehen bleibt aber selbst nach 2018 die Infrastruktur, die durch die Impfungen für die Gesundheitsversorgung gerade in den ärmeren Gebieten der Welt geschaffen wurde. Mit diesen Erfahrungen und Zugangswegen bekommen Kinder auch Impfungen gegen Masern, Bettnetze gegen die Überträger der Malaria oder Vitamin A-Supplemente zur Kindernahrung. Die ökonomischen Vorteile einer Ausrottung der Poliomyelitis sieht eine Studie aus dem Jahr 2010 bei 30-40 Milliarden Euro für die ärmsten Länder der Erde: Einsparungen für die Behandlungskosten erkrankter Kinder und die Zunahme der Produktivität des jeweiligen Landes. Der Aufbau einer Gesundheitsvorsorge im Verlauf der Massenimpfungen ist dabei noch nicht mitgerechnet.
Dennoch ist die größte Befürchtung der Planer von GPEI, dass auf dem Weg ins Jahr 2018 das Geld ausgehen könnte und Impfaktionen nicht mehr überall stattfinden können. Möglicherweise sind nach vielen Fristverlängerungen die nächsten Jahre die entscheidenden, um der Seuche ein und für allemal den Garaus zu machen - oder daran zu scheitern. Dermot Maher vom Britischen Wellcome Trust schreibt in einem Artikel für das WHO-Bulletin: "Die einzige Alternative zur Ausrottung von Polio ist die unbegrenzte Anwendung von Mitteln, um die Ausbreitung und die Leiden durch die Krankheit zu begrenzen. Damit verbunden sind unbegrenzte Ausgaben auf der menschlichen und ökonomischen Seite. Ein Mangel an Entschlossenheit wird das Vorhaben einer Ausrottung von Polio in das Schicksal des Tantalus verwandeln."