Hatten Kliniken und Co. bei der Suche nach Jungärzten früher noch die Qual der Wahl, so hat sich das Blatt merklich gewendet. Doch vor dieser Realität verschließen viele von ihnen scheinbar die Augen. Ein Medizinstudent legt in seinem offenen Brief den Finger in die Wunde.
Liebe Chefärzte, es ist Euch ja auch schon aufgefallen: Der Wind scheint sich zu drehen, irgendetwas ändert sich gerade, ein Mentalitätswechsel bahnt sich an. Die junge Medizinergeneration ist in Aufbruchstimmung. Unsere hoch gelobte, vielfach kritisierte, aber vor allem viel beschriebene Generation steht auf Euren Fußabtretern und möchte eingestellt werden. Ihr nennt uns „Millenials“, „Digital Natives“ oder „Generation Y“ und diskutiert uns umfassend. Uns ist das eigentlich relativ egal. Sicher ist, dass wir eine hervorragend ausgebildete, sprachgewandte, sehr mobile, selbstbewusste und wählerische Gruppe junger Menschen sind. Zugegeben, wir sind etwas verwöhnt und eingebildet. Aber wen wundert das? Wir sind fast alle Einzelkinder oder haben nur sehr wenige Geschwister. Unsere Eltern konnten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und gesamten finanziellen Möglichkeiten auf uns fokussieren. Wir wurden in einem friedliebenden und wirtschaftlich gesegneten Vierteljahrhundert aufgezogen. Lebens- und Reisekosten waren nie so niedrig, Entfaltungsmöglichkeiten nie so zahlreich. Keine Generation vor uns hatte so viele Chancen und konnte sie auch noch so erfolgreich nutzen. Also bitte, seht uns diese leichte Überheblichkeit nach.
Und jetzt klopfen wir also an Eure Türen und möchten zu den Vorstellungsgesprächen hineingelassen werden. Unsere Lebensläufe mit Auslandsaufenthalten, Sprachkompetenzen, ehrenamtlichem Engagement und Forschungsaktivitäten sprechen für sich. Sie sind stringent, weisen kaum Zeitverluste während des Studiums auf und gute Noten aus. Manchmal fragen wir uns selbst, warum wir eigentlich an den Punkten der Weichenstellung unseres Lebensplanes so gewissenhaft abgewägt und die Entscheidungen dann strebsam abgehakt haben. Hätte dem ganzen nicht ein bisschen Ruhe gut getan? Wahrscheinlich liegt das an der maßlos erscheinenden Multioptionalität, der wir ausgesetzt sind. Wer viele Optionen hat, muss auch viele Entscheidungen fällen. Wer viel entscheidet, muss anschließend auch viele Entscheidungen tragen und sie gegenüber Eurer Generation rechtfertigen. Mit dem Ende des Studiums hört das nicht auf. Gerade in unseren Auslandsaufenthalten und im Gespräch mit Studenten anderer Nationen sind wir uns unserer glücklichen, wenn auch komplizierten Lage immer wieder bewusst geworden: Wir stehen vor der Qual der freien Wahl. In welchem anderen Land dieses Planeten ist die Wahl der Facharztausbildung, des Ortes, der Art der Klinik und des Beschäftigungsverhältnisses so selbstbestimmt wie in Deutschland? Nun sitzen wir Euch in Eurer Sitzgruppe oder am Konferenztisch gegenüber. Ihr tragt Kittel und wir sind adäquat gekleidet. Seriös, aber weiterhin dynamisch. Euch dämmert, dass wir sowas nicht zum ersten Mal machen. Denn, obwohl es so viele offene Stellen gibt, schreiben wir mehrere Bewerbungen und schauen uns viele Häuser an. Fast immer liegt ein mittelgroßer Stapel Bewerbungsmappen vor Euch auf dem Tisch, als wäre das Eure letzte Möglichkeit zu zeigen, dass Ihr die Entscheider seid. Wir fragen uns, ob man Euch das in einem Chefarzt-Seminar empfohlen hat, denn Ihr macht das fast alle. Aber uns schüchtert das nicht ein. Vor uns liegt eine vielversprechende Zukunft. Arbeitslosigkeit ist praktisch unmöglich und unsere finanzielle Sicherheit scheint gewiss.
Los geht es wie immer. Man begrüßt sich nett, wechselt ein paar Floskeln über die Anfahrt und schlägt die entsprechende Bewerbungsmappe auf. Und dann reagiert Ihr etwas irritiert. Denn wir treten selbstbewusst auf und stellen Fragen zu den Arbeitsbedingungen. Fragen ganz offen nach Dienstbelastung, Schichtmodellen und Weiterbildungsplänen. Hinzu kommt, dass wir fast alle weiblich sind und, ganz unabhängig vom Geschlecht, nicht verhehlen, uns auch ein eigenes kleines Familienleben vorstellen zu können. Aber auch abgesehen vom Kinderkriegen mögen wir unsere Freizeit und sind es gewohnt, Hobbys nachzugehen. In diesem Zusammenhang sprecht Ihr gerne von der „Feminisierung der Medizin“, als wäre das eine Erkrankung, der nur noch ein ICD-Schlüssel fehlt. Diese Tatsache könnt Ihr nicht ändern. Was sich aber dringend ändern muss, sind Eure Einstellungen und Eure Kliniken. Sonst werden bald nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern sondern auch in Nordrhein-Westfalen die Kliniken schließen müssen. Spätestens wenn Euch dann die explizite Frage nach der Organisation von Forschung neben klinischer Tätigkeit gestellt wird, fragt Ihr Euch, ob wir eigentlich gar keine Tabuthemen mehr haben. Und hier trennt sich dann die Spreu vom Weizen: Ein, wenn auch „noch“ kleiner Teil von Euch Chefs hat sich nämlich schon auf die Anforderungen der jungen Medizinergeneration eingestellt. Kann sich vielleicht sogar in unsere Position hineinversetzten, hat Kinder im selben Alter oder denkt ganz einfach an die personelle Zukunft seiner Klinik. Fast alle sehen die Problematik der hohen Zahl weiblicher Bewerber und fordern dringende Lösungsansätze, um die Heilige Trinität von Klinik, Forschung und Lehre auch in Zukunft aufrecht erhalten zu können. Aber nur ganz wenige lassen dem auch Taten folgen. Ihr beschwert Euch, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, über die hohen Schwangerschaftsquoten Eurer Assistenzärztinnen. Das Entwickeln neuer Arbeitsmodelle und Infrastrukturen für die modernen Anforderungen fällt Euch aber sehr schwer. Lasst Euch nicht nervös machen. Wenn Ihr Euch ein wenig auf uns einlasst und neuen Ideen zumindest eine Chance gebt, dann kriegen wir das gemeinsam hin. So wie es zur Zeit läuft, geht es jedenfalls nicht mehr lange gut.
Wenn wir dann an diesem Punkt des Gespräches angekommen sind, holt Ihr die Floskeln heraus, die Ihr Euch selbst noch als AiP'ler anhören musstet. „Medizin ist ein Beruf, bei dem man nicht auf die Uhr schaut.“ „Wir haben damals auch gelitten, da müssen Sie jetzt auch durch.“ „Glauben Sie nicht, dass Ihnen etwas geschenkt wird.“ „Bei uns damals waren die 30-Stunden-Schichten normal.“ Das sind Sätze, mit denen wir wenig anfangen können und die bestens dazu geeignet sind, uns zu verschrecken. Es ist nicht so, dass wir uns vor der Arbeit scheuen. Und es ist auch auf gar keinen Fall so, dass wir nicht bereit wären, viel Zeit und Engagement in unseren zukünftigen Beruf zu stecken. Was uns nicht gefällt, ist, dass Ihr diese Bereitschaft als Voraussetzung anseht. Einstellungen, Forderungen und Machtdemonstrationen dieser Art führen bei uns zu schlechter Stimmung und sind in der derzeitigen Situation kontraproduktiv. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine positive Arbeitsatmosphäre, im Gegensatz zur Ausübung von Druck, im Endeffekt zu höherer Produktivität führt. Wir sind es gewohnt, dass man uns auf Augenhöhe begegnet. Im Verlauf des Gespräches fällt uns auf, dass ihr unsere Bewerbung eigentlich gar nicht gelesen habt oder wenn, es gerade parallel zum ersten Mal tut. Dann kommt die obligatorische Frage zur Note des Staatsexamens und den wissenschaftlichen Ambitionen. Habt Ihr wirklich schon vergessen, wie es im Studium war und was Examensnoten wirklich aussagen? Genau, nämlich gar nichts. Womit wir uns in unserer Doktorarbeit beschäftigt haben? Ihr solltet selbst am besten wissen, wie schwer die Bewertung der Qualität einer solchen Arbeit ist und vor allem, wie sehr sie von der jeweiligen Betreuung und dem Publikationswillen des Doktorvaters abhing. Als Student hat man da leider oft wenig Einfluss und ist dem Willen der Halbgötter ausgeliefert. Macht Euch nichts vor, beides sagt in den meisten Fällen nur sehr wenig über uns aus. Gerade wenn Ihr ein hohes Interesse habt, uns einzustellen, solltet Ihr da lieber auf unsere Lebensläufe eingehen und gezielte Fragen stellen. Macht uns deutlich, dass Ihr Euch mit unseren Unterlagen beschäftigt habt und Euch unsere Entwicklung und zukünftigen Vorstellungen interessieren. Wenn Ihr Euch, wenn auch nur im geringsten Maße, daran haltet, habt Ihr uns schon in der Tasche.
Denn wir wissen genau: Von einem solchen Gespräch und einer vielleicht noch stattfindenden Hospitation können wir nur wenig auf den tatsächlichen Arbeitsalltag schließen. Für uns zählt aber sowieso vielmehr ein Chef, mit dem man reden kann, eine konstruktive Atmosphäre und das Gefühl, dass auf persönliche Bedürfnisse eingegangen wird. Dann sind wir auch bereit, viel Zeit und Herzblut in unseren Beruf zu investieren und die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam anzugehen. Und bitte vergesst nicht: Im Gegensatz zu Euch, damals in den 80er Jahren, haben wir heute die Wahl. Eure Generation Y.