Egal ob OTCs oder Rx-Präparate, Boehringer Ingelheim ist breit aufgestellt. Mit einem Umsatz von rund 14,7 Milliarden Euro (2012) gehört der Hersteller zu den Großen seiner Branche. Jetzt monierte die FDA eklatante Qualitätsmängel. Bei einem amerikanischen Tochterunternehmen war es bereits zu ähnlichen Defiziten gekommen.
US-amerikanische Gesundheitsbehörden besuchen regelmäßig Hersteller, die Wirkstoffe oder Arzneimittel exportieren. Entsprechen Produktionsbedingungen nicht den „aktuellen guten Herstellungspraktiken“ (current Good Manufacturing Practices, cGMPs), erhalten betroffenen Firmen Zeit zur Nachbesserung. Im schlimmsten Falle hat die U.S. Food and Drug Administration (FDA) sogar Möglichkeiten, um Einfuhrverbote zu verhängen beziehungsweise Werke in den USA zeitweilig zu schließen.
Jetzt erschüttert ein „Warning Letter“ die pharmazeutische Fachwelt. In diesem Brief wenden sich Gutachter der FDA öffentlich an Boehringer. Sie inspizierten das Ingelheimer Werk vom 5. bis zum 12. November und fanden „signifikante Verstöße“ gegen Richtlinien zur Qualitätssicherung von Produktionsabläufen. Ihre Rüge bezieht sich auf Mängel bei Herstellungsprozessen. Dadurch gelangten Fremdpartikel unbekannter Herkunft in Arzneistoffe – ohne große Konsequenzen. „Zum Beispiel hat Ihr Unternehmen keine gründliche Untersuchung vorgenommen, um die Quelle von Fremdkörpern im pharmazeutischen Wirkstoff zu bestimmen“, kritisiert Michael D. Smedley, FDA, im Schreiben. Auch seien Maßnahmen zur Behebung und Vorbeugung nicht rechtzeitig implementiert worden. Und weiter: „Dennoch entschied sich Ihre Firma, mit kontaminierten Chargen von „(b)(4)“ Kapseln zu produzieren.“ Trotz aller Transparenz wird der Arzneistoff als „(b)(4)“ verschlüsselt. Was sich hinter dem Kürzel verbirgt, ist unbekannt. Ein Unternehmenssprecher sagte zu DocCheck, dazu wolle man sich nicht äußern, die FDA habe entsprechende Angaben bewusst geschwärzt. Es gehe bei der Diskussion derzeit um „unsere Produktion und das Qualitätsmanagement und weniger um die konkreten Wirkstoffe“. Boehringer selbst stellt zahlreiche rezeptpflichtige Präparate aus den Bereichen Immunologie/Virologie, Kardiologie, Neurologie, Onkologie und Pneumologie her. In einem dieser Bereiche ist es aller Wahrscheinlichkeit nach zu Pannen gekommen.
FDA-Qualitätsbeauftragte listen gleich mehrere Einzelfälle auf. Beispielsweise habe es schon im Juni 2010 Beschwerden über „(b)(4)“ gegeben. „Ihre Untersuchung fand die Ursache der Fremdkörper nicht, und man stellte fest, die Beschwerde habe sich nicht bestätigt“, heißt es im „Warning Letter“. Daraufhin seien Checks abgeschlossen worden. Bei einer Charge vom September 2011 schlagen Überwachungsbehörden noch härtere Töne an. Boehringers Definition von „bestätigt“ oder „nicht bestätigt“ erweise sich als inkonsistent – beide Aussagen seien mit der Anwesenheit von Partikeln im Pharmakon verbunden gewesen. „Wir sind über Ihre Unfähigkeit, Fremdstoffe in Ihren aktiven Arzneistoffen zu vermeiden beziehungsweise adäquate Maßnahmen zu treffen, um die Situation in Griff zu bekommen, besorgt.“ Arzneimittel gelangten weiterhin in Offizin- und Krankenhausapotheken. Dazu die FDA: „Wir stimmen mit Ihrer Entscheidung, den Arzneistoff „(b)(4)“ zu verwenden, nur weil kontaminierte Chargen die erforderliche [pharmazeutische, d. Red.] Spezifikation haben, nicht überein. Verwenden Sie geeignete Herstellungsverfahren, Kontrollen, Qualitätsstandards und Systeme zur Untersuchung atypischer Ereignisse wie Verschmutzungen“, schreibt Michael D. Smedley. Diese seien „wesentlichen Teile eines robusten Qualitätssicherungssystems“. Außerdem könne man keinem Produkt, das bereits hergestellt worden sei, „Qualität hinzufügen“.
Brancheninsider sind über den aktuellen Qualitätsskandal wenig erstaunt. Bereits 2011 hat Boehringer sein Tochterunternehmen Ben Venue Laboratories in Bedford, Ohio, freiwillig geschlossen. Inspektoren der FDA fanden auf ihrer Jagd nach Partikeln in sterilen Zubereitungen wenig Ansehnliches: rostige Werkzeuge, Schimmel und ein Fass mit unbekanntem Inhalt – wahrscheinlich Urin. In einem Reinraumbereich wiederum tropfte Regenwasser von Vorhängen. Etliche Medikamente mussten zurückgerufen werden, bei denen Produkte von Ben Venue Laboratories zum Einsatz gekommen waren. Daraufhin kämpften Ärzte und Krankenhausapotheker mit Engpässen bei wichtigen Zytostatika. Trotz diverser Sanierungen kam es zum nächsten Eklat. Ende Januar verfügte ein US-Bundesrichter, dass Ben Venue Laboratories die Produktion erneut einstellen muss, bis alle Prozesse mit dem Federal Food, Drug, and Cosmetic Act kompatibel sind. Verstöße gegen entsprechende Regeln zur Qualitätssicherung gefährdeten die Sterilität injizierbarer Arzneimittel. „Das Unternehmen hat diese Probleme nicht zeitnah gelöst und damit Patienten durch Arzneimittel schlechter Qualität in Gefahr gebracht“, sagte Melinda K. Plaisier von der FDA.
Zurück nach Ingelheim: Jetzt hat der pharmazeutische Hersteller 15 Tage Zeit, auf entsprechende Vorwürfe der FDA zu reagieren. „Boehringer Ingelheim nimmt die Angelegenheit sehr ernst und arbeitet eng mit der FDA bei der Erstellung eines umfassenden Maßnahmenplans zusammen, der auf alle Anliegen der Behörde eingeht“, sagt Dr. Gerhard Köller, Bereichsleiter Qualität. Der Konzern werde sicherstellen, alle Korrektur- und Präventivmaßnahmen umzusetzen, sprich Qualitätssysteme zu optimieren. Köller: „Unser Ziel ist es, alle 'aktuellen guten Herstellungspraktiken' (current Good Manufacturing Practices) optimal einzusetzen. Daher werden wir all unsere Energie auf die Optimierung der derzeitigen Abläufe und Prozesse konzentrieren, um den Forderungen der FDA gerecht zu werden.“ Er verweist auf 22 Prüfungen in den letzten fünf Jahren am Standort Ingelheim, ohne dass Behörden einen Grund zur Beanstandung gehabt hätten. „Was die Maßnahmen angeht, so sprechen wir von einer umfangreichen Optimierung unseres Qualitätsmanagements in der Produktion. Der Brief beanstandet konkret nur Ingelheim, aber wir werden die Maßnahmen in allen Produktionsstätten weltweit implementieren“, ergänzt ein Unternehmenssprecher gegenüber DocCheck. Welche Strategie dabei verfolgt wird, ist unklar. Denkbar wäre, die Produktion von „(b)(4)“ erst einmal zu stoppen. Zwar hätte der Hersteller dann bessere Möglichkeiten, Schwachstellen aufzuspüren – allerdings auf Kosten möglicher Lieferengpässe.
Jenseits technischer Diskussionen kam eine Maßnahme doch recht plötzlich: Bereits am 17. Mai gab Boehringer Ingelheim bekannt, Professor Dr. Wolfram Carius, Mitglied der Unternehmensleitung, werde die Firma verlassen. Das erstaunt insofern, als Carius seit mehr als 26 Jahren für den Konzern in zahlreichen Funktionen tätig war. Zuletzt verantwortete er Bereiche wie Biopharmazie und Produktion. Laut „Handelsblatt“ sähen Brancheninsider Zusammenhänge mit den aktuellen Qualitätsproblemen. Dr. Wolfgang Baiker tritt im Juli als Nachfolger ein schweres Erbe an.