Nahezu jedes Kind wird in seinen ersten beiden Lebensjahren mindestens einmal von einem RS-Virus heimgesucht. Dass eine solche Infektion zu kognitiven Störungen führen kann, zeigten Versuche an Mäusen. Wissenschaftler fordern nun einen Impfstoff.
Irgendwann erwischt es sie alle: 70 Prozent aller Säuglinge im ersten Lebensjahr waren mindestens einmal mit den sogenannten Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) infiziert. „Das RS-Virus ist ein weltweit verbreiteter Erreger von akuten Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege in jedem Lebensalter und einer der bedeutendsten Erreger von Atemwegsinfektionen bei Säuglingen, insbesondere Frühgeborenen und Kleinkindern“, ist auf den Seiten des Robert Koch-Instituts (RKI) zum RSV zu lesen. Nach dem zweiten Lebensjahr hat es praktisch jedes Kleinkind mindestens einmal erwischt. Das ist in den allermeisten Fällen nicht weiter dramatisch – so dachte man bisher zumindest. Denn meistens löst das Virus nur eine fiebrige Erkältung aus. Bei schwereren Verläufen leiden die Patienten unter einer Bronchitis, manchmal auch unter Atemnot oder einer Lungenentzündung. Doch das kommt nur relativ selten vor. Nach aktuellen Schätzungen kommen RSV-Atemwegserkrankungen weltweit mit einer Inzidenz von 48,5 Fällen, aber nur 5,6 schweren Fällen pro 1.000 Kindern im ersten Lebensjahr vor, so das RKI.
In Studien aus den Jahren 2004 bis 2009 wurden RSV-Infektionen allerdings auch mit neurologischen Symptomen in Verbindung gebracht. Bei rund zwei Prozent aller RSV-Infektionen soll es demnach zu Krämpfen, Schluckbeschwerden, Lethargie, Lähmungen, Atemstillständen oder zu Enzephalopathien - krankhaften Veränderungen des Gehirns, kommen. Wie genau das Virus diese neurologischen Symptome verursacht, wie es zum Gehirn vordringt und welche Folgen dies hat, sei bisher unklar geblieben, schreiben Wissenschaftler der katholischen Universität Chiles in Santiago in ihrer aktuellen Veröffentlichung im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences". In Versuchen an Ratten und Mäusen konnten die Forscher diese Fragen nun klären.
Um zu prüfen, wie sich die Viren im Körper verbreiten, infizierten die Wissenschaftler aus Chile zunächst ihre Versuchtiere mit einer RS-Virenlösung, die sie in die Nasen der Tiere träufelten. In den Tagen nach der Infektion entnahmen sie den Tieren regelmäßig Blut- und Gewebeproben aus der Lunge, der Nase und dem Gehirn. Diese Proben untersuchten die Forscher auf Viren-RNA und Virenproteine. Bereits 24 Stunden nach der Infektion hatten die Viren den Riechkolben, eine Anschwellung an der vorderen Basis des Gehirns, an der die Riechnerven enden, erreicht. Nach sieben Tagen konnten die Wissenschaftler das Virus auch im Stammhirn der Tiere nachweisen. Die schnelle Infektion des Stammhirns könnte erklären, wieso bei einigen an RSV-erkrankten Kindern Atemstillstände auftreten, so die Forscher. Denn dieser Teil des Gehirns steuert lebenswichtige Funktionen wie die Atmung.
Die RS-Viren nutzen aber offenbar nicht nur die Riechnerven auf ihrem Weg zum Gehirn. Getarnt auf Leukozyten können sie ungehindert die Blut-Hirn-Schranke passieren. Diese Vermutung prüften die Wissenschaftler mit Hilfe von Antikörpern, die die Transportleukozyten lahm legen. Bei Tieren, denen diese Antikörper verabreicht worden waren, sank auch die Virenlast im Gehirn deutlich ab, wie die Forscher berichten.
Das prüften die Wissenschaftler anhand zweier Verhaltens- und Lerntests, zu denen sie infizierte und nicht infizierte Ratten und Mäuse gegeneinander antreten ließen. Einen Monat nach der RSV-Infektion ließen die Wissenschaftler die Tiere Murmeln eingraben, die sie auf der Käfigstreu verteilt hatten. Dies tun die Nager natürlicherweise, um ihre Nahrung vor Fressfeinden zu schützen. Die RSV-infizierten Tiere hatten bei diesem instinktiven Vorgang deutlich mehr Probleme als ihre gesunden Artgenossen, wie die Wissenschaftler berichten. In einem weiteren Versuch wurde das Lern- und Merkvermögen der Tiere getestet. Dazu mussten infizierte und nicht-infizierte Ratten eine unter Wasser verborgene Plattform finden und sich deren Position merken. Auch hier wurde deutlich, wie sehr die Tiere offenbar auch 30 Tage nach der Infektion mit RSV noch durch das Virus beeinträchtigt zu sein schienen: Erkrankte Ratten benötigten deutlich mehr Zeit, die versteckte Plattform zu finden und sich deren Standort einzuprägen. Auch nach mehreren Versuchsdurchgängen paddelten sie deutlich länger suchend umher als die gesunden Kontrolltiere. Die Forscher vermuteten dahinter einen viralen Schaden im Hippocampus. Denn an diesem Ort im Gehirn fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Cortex zurückgesandt werden. Damit ist dieser Teil des Gehirns äußerst wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Laboranalysen der Wissenschaftler bestätigten den Verdacht: Das RS-Virus behindert Funktionen der Synapsen im Hippocampus, der für das Lernen wichtig sind.
Eine wirksame kausale Behandlung der RSV-Infektion existiert bisher nicht. Die Therapie ist symptomatisch und besteht in ausreichender Flüssigkeitszufuhr zur Sekretmobilisation und Freihalten des Nasopharynx mit NaCl-Nasenspülungen oder -tropfen. Nach individuellem Zustand des Patienten können Sauerstoffgaben, Atemunterstützung mit CRAP-Maske oder Intubation und Beatmung erforderlich werden. Antibiotikagaben beeinflussen weder den klinischen Verlauf der RSV-Infektion, noch die Dauer der Ansteckungsfähigkeit. Eine antibakterielle Therapie ist nur indiziert, wenn eine bakterielle Koinfektion vorliegt. Wichtig ist daher ein sorgfältiges Monitoring auf Anzeichen einer bakteriellen Infektion, wie z. B. eine sekundäre klinische Verschlechterung. Wie sieht es mit der Prophylaxe aus?
Obwohl die Versuche bisher nur an Ratten und Mäusen stattfanden, ist für Wissenschaftler klar, dass RS-Virus keineswegs ein harmloses Schnupfenvirus ist. Sie befürchten lang anhaltende Störungen sowohl instinktiver Handlungen als auch der Lernfähigkeit bei Kindern und plädieren dafür, möglichst rasch nach einem geeigneten Impfstoff zu suchen. Eine mögliche Substanz haben die Forscher bereits an ihren Versuchtieren getestet: eine genetisch modifizierte Variante des Tuberkulose-Impfstoffs BCG, die Proteine des RS-Virus enthält. Bei geimpften Tieren konnten die Wissenschaftler wesentlich weniger Viren in Lunge und Gehirn nachweisen. Bei den Verhaltens- und Lerntests schnitten die immunisierten Mäuse genauso gut ab wie die gesunden Kontrolltiere. Für die Forscher ein klares Indiz, dass eine Immunisierung mit diesem Impfstoff sowohl vor der Erkrankung schützt als auch vor den virenbedingten Spätfolgen im Gehirn.
Eine Frage stellt sich allerdings: Wenn RSV tatsächlich auch bei Kindern zu Lernstörungen führt und jedes Kind bis zu seinem zweiten Lebensjahr mindestens einmal mit RSV infiziert war, warum leiden dann nicht alle Kinder unter einer Lernstörung? „Unsere Experimente im Tiermodell sind nicht eins zu eins auf den Menschen übertragbar“, so Studienleiterin Dr. Claudia Riedel gegenüber DocCheck. „Außerdem haben wir die Lernstörung einen Monat nach der RSV-Infektion festgestellt. Wie sich die Mäuse später verhalten, haben wir nicht untersucht. Es könnte sein, dass Erfahrungswerte den Mäusen dabei helfen, ihre Defizite wieder auszugleichen. Bei Beschädigung oder Absterben von Nervenzellen hält das zentrale Nervensystem ein neuronales Reservoir bereit, mit dessen Hilfe Vorgänge trotzdem in gewohnter Weise ausgeführt werden können. Eine Impfung könnte dem jedoch vorbeugen.“