Zumindest in dieser Legislaturperiode bleibt es dabei: Wer die „Pille danach“ benötigt, braucht auch künftig eine ärztliche Verordnung. Diese gesundheitspolitische Position stößt bei Patientinnen auf Widerstand und Unverständnis – im Netz braut sich ein Shitstorm zusammen.
Ein heißes Eisen: Im April lud der Bundestag zahlreiche Experten ein, um ihre Position zur Rezeptpflicht Levonorgestrel-haltiger Präparaten zu erläutern. Das Thema ist nicht ohne Brisanz, nachdem katholischen Krankenhäuser mit ihrer Verweigerungshaltung selbst nach einer Vergewaltigung für Schlagzeilen sorgten. Mittlerweile hat zwar ein Umdenken stattgefunden. Dennoch isoliert sich Deutschland mit seiner restriktiven Haltung weltweit immer stärker. Jetzt greifen Patientinnen zu eigenen Mitteln und Wegen.
Aus wissenschaftlicher Sicht gelten Intrauterinpessare als sicherste Form der Notfallkontrazeption. Das hat eine Metaanalyse mit 42 Studien ergeben. Laut Kelly Cleland von der US-amerikanischen Princeton University verhindern Pessare, dass sich befruchtete Eizellen in die Uterusschleimhaut einnisten. Das Wirkprinzip gibt Patientinnen einen größeren Spielraum von fünf bis sechs Tagen nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Bei Levonorgestrel gelten drei und bei Ulipristal fünf Tage als Grenze. Wichtiger sei laut Cleland aber die Erfolgsquote: Griffen Gynäkologen zur Spirale, kam es bei 7.000 Patientinnen zu zehn Schwangerschaften (0,09 Prozent nach Korrektur methodischer Fehler). Dann erst folgen die „morning after pill“ Ulipristal mit ein bis zwei Prozent und „Plan B“ (Levonorgestrel) mit zwei bis drei Prozent Schwangerschaften – stark abhängig vom Einnahmezeitpunkt. Beide Arzneistoffe hemmen die Follikelreifung und verzögern damit die Ovulation, bis im Idealfall keine lebensfähigen Spermien mehr vorhanden sind. Allerdings sinkt mit steigendem BMI die Wirksamkeit entsprechender Präparate.
Trotz dieser Datenlage bleibt die Spirale als Notfallkontrazeption in vielen Ländern eher eine Ausnahme. Professor James Trussell von der Princeton University sieht die leichte Verfügbarkeit und Anwendung von Levonorgestrel als Grund, während Patientinnen auf die Schnelle keine Termine bekämen, um sich die Spirale einsetzen zu lassen. Auch der pharmazeutische Bereich ist in Bewegung geraten. In Großbritannien ergab eine retrospektive Auswertung von knapp 3.000 Patientendaten, dass Empfehlungen der Faculty of Sexual & Reproductive Healthcare (FSRH) tatsächlich Einfluss auf ärztliche Verordnungen haben. Von Frauen, denen alle drei Methoden zur Notfallkontrazeption angeboten wurden, entschieden sich im Vergleichszeitraum mehr für Ulipristal (18,7 Prozent versus 3,0 Prozent), während Levonorgestrel an Bedeutung verlor (76,0 Prozent versus 93,0 Prozent). Aus den USA berichten Forscher der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), dass immer mehr Patientinnen zur „Pille danach“ greifen. Waren es 2002 noch 4,2 Prozent, stieg die Zahl auf 11,0 Prozent (2006 bis 2010) an. Die Daten an sich haben nur eine bedingte Aussagekraft, da beispielsweise nicht auf Trends bei Abtreibungen eingegangen wird.
Aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation WHO ist die Entscheidung damit klar: In einem Datenblatt rät sie zu Levonorgestrel als Notfallkontrazeptivum der Wahl. Der Arzneistoff werde „gut vertragen“, und es gebe „Erfahrungen von über 30 Jahren“. Ausdrücklich befürwortet die WHO, Präparate als OTCs über Apotheken abzugeben. Nach pharmazeutischer Beratung würde die „Pille danach“ von Frauen, aber auch von Mädchen, korrekt angewendet. Hinweise auf ein riskanteres Sexualverhalten fanden die Forscher nicht. Experten hier zu Lande beurteilen die Sachlage weitaus differenzierter.
Im Bundestag wies Professor Dr. Thomas Rabe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin, auf medizinische Risiken von Levonorgestrel hin, etwa venöse Thrombosen und Thromboembolien. Außerdem betonte er, das Präparat könne bei Patientinnen mit mehr als 70 Kilogramm Körpergewicht wirkungslos bleiben. Auch stehe mit Ulipristal ein wirksameres Mittel zur Verfügung, das bis zum Moment, in dem der Eisprung ausgelöst werde, eingenommen werden könne – mit europaweiter Zulassung. Die Arzneimittelverschreibungsverordnung kann aber nur für national zugelassene Medikamente, sprich Levonorgestrel, geändert werden. Rabe kritisierte, Apotheker im Notfalldienst „können die nötige Aufklärung nicht leisten“. Und Dr. Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte, ergänzte, je nach Phase des Menstruationszyklus sei die „Pille danach“ gegebenenfalls nicht erforderlich. Die entsprechende Beratung „könnten jedoch nur Frauenärzte erbringen“.
Diese Meinung fand bei der heilberuflichen Konkurrenz naturgemäß wenig Zustimmung. Als Argument für eine Freigabe verwies Dr. Gudrun Ahlers vom Deutschen Pharmazeutinnen Verband Erfahrungen auf 28 europäische Ländern, in denen man keine negative Erfahrungen gemacht habe – weder in medizinischer, noch in ethischer oder moralischer Hinsicht. Das US-amerikanische Gesundheitssystem bindet Apotheker sogar aktiv in die Familienplanung mit ein. Außerdem, so Ahlers, könnten diese sehr wohl beraten, „auch wenn es an der Klappe ist“. Dr. Ulrich Hagemann vom Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten unterstützte Ahlers mit dem Hinweis, entsprechende Wünsche kämen „von der Basis und aus den Beratungsstellen“. Und Professor Dr. Daphne Hahn von pro familia kritisierte, Frauen würden in Notfallambulanzen teilweise „entwürdigend behandelt“, sollten sie die „Pille danach“ benötigen.
Mitte Mai kam es dann zur entscheidenden Abstimmung. Union und Liberale plädierten weiterhin für die Verschreibungspflicht. Anträge der Opposition sind damit gescheitert. Vertreter der CDU/CSU argumentierten, in Deutschland könne nur Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht entlassen werden. Dagegen sprächen „stärkere Nebenwirkungen und eine schwächere Wirksamkeit“. Grundsätzlich halten Christdemokraten eine ärztliche Beratung für erforderlich. Laut FDP sei es „nur schwer vorstellbar, dass diese im Apothekenverkaufsraum stattfinden kann“. Dem gegenüber verweist die Linke auf bekannte Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und spricht von „berufsständischer Argumentation“. Unterstützung für die „Pille danach“ ohne Rezept kam von SPD-Abgeordneten. Und bei den Grünen machte sich Erstaunen breit, dass die Koalition Apothekern nicht zutraue, adäquat zu beraten.
Patientinnen wollen sich weder mit der aktuellen Entscheidung abfinden noch auf die nächste Bundesregierung warten. Vielmehr machen sie über Social Media mobil. Die Gruppe „Freie Pille danach“ tauscht sich über Facebook und Twitter (@pilledanach_) aus. Jens Spahns (CDU) Zitat, solche Medikamente seien „nun mal keine Smarties“, beschert einen wahren Shitstorm – unter dem Hashtag #wiesmarties gehen ständig neue Kommentare zum Thema ein. Auch veröffentlichen Patientinnen bei Crowdmap regionale Erfahrungen zu Praxen. In grenznahen Bereichen nutzen Frauen Apotheken der Nachbarländer, um Notfallkontrazeptiva ohne Verschreibung zu erwerben. Mit Forderungen wie „Geht zum Arzt, holt euch die Pille danach, meldet euch und wir vermitteln sie an Frauen, die sie brauchen“ machen Betroffene zusätzlich Druck.
Andere haben die Gunst der Stunde unter wirtschaftlichen Aspekten längst erkannt: DrEd, die umstrittene Online-Arztpraxis mit Sitz in London, wirbt: „Beantworten Sie unseren ärztlichen Fragebogen. Spricht aus medizinischer Sicht nichts dagegen, stellen unsere Ärzte Ihnen ein Rezept für die „Pille danach“ aus. Eine deutsche Apotheke schickt Ihnen die „Pille danach“ per Express, so dass sie am nächsten Morgen zwischen 8 und 12 Uhr bei Ihnen eintrifft.“ Doch gerade am Wochenende ist dies keine Alternative: „Falls der ungeschützte Geschlechtsverkehr in das Zeitfenster Freitag 18 Uhr bis Samstag 18 Uhr fällt, wenden Sie sich bitte an Ihren örtlichen, hausärztlichen Notdienst oder Ihr Klinikum“, heißt es lapidar.