Pharmazeutische Hersteller investieren Milliardenbeträge, um Laien zu erreichen. Während viel Wert auf cineastische Meisterleistungen gelegt wird, vergessen Firmen oftmals ihre Zielgruppe. Ihnen helfen Neurowissenschaftler mit virtuellen Blicken in das Gehirn von Konsumenten – Forschung zwischen legitimen Interessen und „Brave New World“?
„Die Hälfte des Geldes, das ich für Werbung ausgebe, ist verschwendet. Das Problem ist, ich weiß nicht, welche Hälfte“. John Wanamaker (1838 bis 1922), Vater der modernen Werbung, ärgerte sich schon vor mehr als 100 Jahren über diese Tatsache – Lösungen fand er damals keine. Schließlich beeinflussen zahlreiche Parameter wie Alter, Geschlecht, Kulturkreis, Ausbildung oder Berufserfahrung alle Kaufvorgänge. Marktforscher sind mit ihrer klassischen Methodik längst an einem toten Punkt angelangt, da hauptsächlich bewusste Entscheidungen abgefragt werden. Allerdings deuten neurologische Arbeiten auf eine „universelle Sprache des Gehirns“ hin.
Um Reaktionen auf einen Marketing-Stimulus zu erfassen, helfen zahlreiche Methoden der medizinischen Diagnostik. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI, functional magnetic resonance imaging) misst Gehirntätigkeiten über den Oxygenierungsgrad von Blut – „hot Spots“ benötigen mehr Sauerstoff. EEG-Ableitungen wiederum zeigen elektrische Aktivitäten in bestimmten Arealen. Beispielsweise bringen Neurologen den lateralen, präfrontalen Cortex mit Bewertung und Regulation emotionaler Prozesse in Zusammenhang. Der Hippocampus wiederum spielt eine Rolle, sollten Kunden sich an eine Werbebotschaft erinnern. Dabei werden Inhalte aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis überführt, wuchtig auch bei Werbebotschaften. Weitere Parameter, die sich beim Medienkonsum verändern, sind Atmung, Herzschlag sowie die elektrodermale Aktivität (galvanic skin response).
Was theoretisch gut klingt, wirft in der Praxis zahlreiche Fragen auf. Ein besonders spektakuläres Experiment entlarvt Schwachstellen vieler Arbeiten: Der US-amerikanische Neurowissenschaftler Craig Bennett untersuchte, wie ein – wohlgemerkt toter – Lachs auf Bilder von Menschen reagiert, die fröhlich, wütend oder ängstlich sind. In der Tat fand er vermeintliche Signale, die mit erhöhten Gehirnaktivitäten interpretiert werden könnten. Bennett hielt Kollegen den Spiegel vor und erklärte seine Versuchsergebnisse einzig und allein durch Grundrauschen. Diese Artefakte würden bei in 25 bis 40 Prozent aller Untersuchungen nicht herausgefiltert, lautet seine Kritik. Für die Praxis müssten Forscher dazu pro Versuchsperson im fMRT etwa 30 bis 40 Durchläufe ansetzen, bei EEG-Studien sogar 500 bis 800. Je nach Fragestellung kosten Experimente fünf- bis sechsstellige Summen oder mehr. Selbst große Marktforschungsunternehmen stoßen hier an finanzielle Grenzen. http://www.youtube.com/watch?v=HNrWj9MVaP0
Abgesehen vom allgegenwärtigen Grundrauschen haben fMRI-Experimente eine weitere Schwachstelle: Sehen sich Konsumenten beispielsweise TV-Spots an, reicht die zeitliche Auflösung nicht aus. Um Änderungen der Gehirnaktivität durch visuelle und akustische Stimuli zu erfassen, seien Werte im Millisekunden-Bereich erforderlich, erklärt Giovanni Vecchiato, Rom, in einem Übersichtsartikel. Er kritisiert, fMRI-Scans ließen keine präzisen Aussagen zu, welcher Einspieler Probanden interessiert hätte – und welcher nicht. Diese Schwächen hätten EEG-Studien nicht. Zu Vecchiatos Experiment: Studienteilnehmer sehen in bequemer Fernsehhaltung einen Spielfilm an, der mehrfach von Commercials unterbrochen wird. Später folgen Interviews zu den Inhalten und deren Wirkung. Nach mathematischer Auswertung wurden statistisch signifikante Änderungen von Aufmerksamkeit und Erinnerungsvermögen im Vergleich zum nichtkommerziellen Teil des Filmmaterials dargestellt. Mit Hilfe der Technik gelingt es, Clips zu identifizieren, die mit höherer Aktivität in Bereichen der Großhirnrinde verbunden sind
Zurück zur Praxis: Bereits im Vorfeld sollten pharmazeutische Hersteller entsprechende Neuromarketing-Techniken anwenden, um die Effektivität verschiedener Werbefilme zu testen. Speziell bei Einspielern zu OTCs stehen verschiedene Strategien im Mittelpunkt, um Kunden anzusprechen: der Claim, der Anspruch, ein Leiden zu heilen beziehungsweise Krankheiten vorzubeugen sowie das Erinnerungsvermögen. Aus dem Blickwinkel des Weltmarkts haben sich – ungeachtet regionaler Einschränkungen durch Gesetze – mehrere Strategien entwickelt: Botschaften zu Gesundheit und Wohlbefinden erreichen ihr Ziel, verstärkt durch Vorher-Nachher-Vergleiche. Bekannte Inhalte und Bilder sagen dabei mehr als tausend Worte. Auch erreichen Gefühle und Emotionen das Gehirn zuallererst – mit reinen Informationen ist kein Blumentopf zu gewinnen. Besonders große Aufmerksamkeit haben Beginn und Ende eines Werbespots – hier sollten aus biologischer Sicht die Kernbotschaften stehen.
Stephen Rhys Thomas, Forscher an der Uni Southampton, will das Thema nicht auf Patienten und OTCs beschränken. Vielmehr könnten Neurowissenschaften helfen, das Verschreibungsverhalten von Ärzten zu verstehen – und Reputationen von Herstellern beziehungsweise Marken zu bewerten. Bleibt unter marktwirtschaftlichen Aspekten die Frage, wann Mediziner ihr „Aut-idem“-Kreuz zu Gunsten eines Originalpräparats setzen oder lieber Generika verordnen. Neben harten Fakten kommt auch das Image pharmazeutischer Hersteller zum Tragen. Thomas spricht von „wiederkehrenden, selbstverschuldeten Marketing-Katastrophen“, die zu einer „Erosion des Vertrauens“ geführt hätten. Hier macht sich Neuromarketing bezahlt. Hier macht sich Neuromarketing bezahlt. Man beobachte Kunden, greife aber nicht in deren Verhalten ein – als „intelligenterer Weg, Ärzte oder Konsumenten besser zu verstehen“.
Kritiker haben da nicht nur ethische Bedenken. Für Ärzte und Apotheker wären bessere Produkte ein schlagenderes Verordnungsargument als geschicktere Manipulation. Dazu ein paar Zahlen: Lediglich zwei von 23 Medikamenten, die 2010 und Anfang 2011 neu auf den deutschen Markt gekommen sind, stellen laut TK-Innovationsreport 2013 einen „relevanten therapeutischen Fortschritt“ dar. Für dieses Problem bietet Neuromarketing sicher nicht den richtigen Lösungsansatz.