Die Nahrungssuche wird nicht automatisch durch ein Hungergefühl ausgelöst. Zu dieser Erkenntnis kamen Pharmakologen, die einen neuronalen Schaltkreis entdeckt haben. Dabei stellte sich heraus, dass das Beschaffen von Nahrung ein vom Hunger unabhängiger Prozess ist.
Die Suche nach Nahrung ist ein Urinstinkt von Mensch und Tier. Aber was genau sich dabei im Gehirn abspielt, war bislang unbekannt. Jetzt wurde ein neuronaler Schaltkreis entdeckt, der die Nahrungssuche aktiviert. Spektakulär daran ist, dass die Aktivierung des Signalwegs unabhängig vom Hunger ist. Dr. Tatiana Korotkova and Dr. Alexey Ponomarenko vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin und dem Exzellenzcluster NeuroCure konnten damit eine Wissenslücke schließen. Der Fund erlaubt ein völlig neues Verständnis von sowohl biologischen als auch krankhaften Prozessen.
Wenn die Gedanken trotz Sättigungsgefühl ums Essen kreisen, ist das ganz normal. Denn Nahrungssuche ist ein angeborener Instinkt. Während das Jagen und Sammeln für unsere Vorfahren überlebenswichtig war, führt uns das evolutionäre Erbe im 21. Jahrhundert an den Kühlschrank oder in den nächsten Supermarkt. Aus Sicht von Neurowissenschaftlern ist dieser Vorgang hochinteressant, nicht zuletzt weil Probleme in diesem Bereich möglicherweise Essstörungen wie Magersucht erklären können. Doch dafür muss man erst einmal die neuronalen Mechanismen kennen, die der Nahrungssuche zugrunde liegen.
Kognitive Funktionen wie Gedächtnisarbeit, Aufmerksamkeit und geistige Flexibilität werden von rasend schnellen Wellen, die 30 bis 100 Schwingungen pro Sekunde auslösen, unterstützt. Bislang war aber unklar, ob diese Wellen auch bei der Nahrungssuche involviert sind. „Zusammen mit Kollegen aus den USA und Großbritannien konnten wir den Schaltkreis auf verschiedenen Ebenen präzise charakterisieren – von anatomischen Verbindungen bis hin zur Erregung einzelner Zellen“, beschreiben Korotkova und Ponomarenko die Forschungsergebnisse. Dabei wurde deutlich, dass sogenannte Gamma-Oszillationen diesen Mechanismus im lateralen Hypothalamus organisieren, wo unter anderem das Essverhalten reguliert wird. Dorthin gelangen die Informationen durch Hilfe der blitzschnellen Wellen. Den Code, den die Gamma-Oszillationen dabei für ihre Kommunikation benutzen, konnten die Forscher ebenfalls knacken.
Dem neuronalen Schaltkreis waren die Forscher mithilfe der Optogenetik auf die Spur gekommen, ein Verfahren, das durch Lichteinwirkung etwa die Steuerung spezieller Signalwege im Gehirn erlaubt. In diesem Fall regte das Licht Mäuse an, nach Futterquellen zu suchen, selbst dann, wenn sie gar nicht hungrig waren. „Es war beeindruckend zu sehen, dass Gamma-Oszillationen im lateralen Hypothalamus so einen starken Effekt auslösten, wo diese Hirnregion doch bisher hauptsächlich für ihr Ansprechen auf chemische und hormonelle Signale bekannt war“, berichtet die Doktorandin Marta Carus.
Bemerkenswerterweise führte das Auffinden von Futter nicht dazu, dass die Nager mehr fraßen. Diese Beobachtung schien daraufhin zu deuten, dass Nahrungssuche und Essverhalten teilweise über unabhängige Mechanismen gesteuert werden, spätere Experimenten bestätigten dies. „Geeignetes Futter zu finden, ist in der freien Natur ein zeitraubendes Unterfangen“, erklärt Korotkova, „deshalb beginnen Tiere schon damit, bevor sie hungrig sind und es vielleicht zu spät sein könnte.“ Auf den Menschen übertragen bedeutet das: „Wahrscheinlich ist es dieser Schaltkreis, der uns veranlasst, die Restaurants in einer fremden Stadt abzuchecken oder immer wieder einen Blick in den Kühlschrank zu werfen“, sagt die Biologin. „Wir wissen jetzt auch, dass der präfrontale Kortex [...] eine wichtige Rolle spielt.“ Die Trennung zwischen Nahrungssuche und -aufnahme konnten die Forscher unterdessen auf Zellebene belegen. Während der Gamma-Oszillationen wurden nahrungsassoziierte Zellen getrennt von nicht-nahrungsassoziierten Zellen aktiviert, und zwar mit einem hoch präzisen Timing. „Dass durch die rhythmischen Einwirkungen auf den Hypothalamus nahrungsassoziierte Zellen selektiv beeinflusst wurden, gibt uns einen wunderbaren Einblick in die Interaktion der Strukturen und Funktionen im Gehirn“, betont Ponomarenko. „Wir haben gesehen, dass die Gamma-Oszillationen durch Informationsübermittlung zwischen Hirnregionen und Zelltypen ein überlebenswichtiges Verhalten steuern.“
Besonders interessant für Neurowissenschaftler ist die Erkenntnis, dass die Nahrungssuche nicht mit dem physiologischen Bedürfnis nach Nahrung gekoppelt ist. Bei Essstörungen scheint dieser Mechanismus jedoch nicht richtig zu funktionieren. Während die einen über den Hunger hinaus essen, meiden andere jeden Kontakt zur Nahrung. Nach Ansicht der Wissenschaftler wäre es besonders wünschenswert, mit den Forschungsergebnissen Magersüchtigen helfen zu können, da diese Erkrankung einer sehr hohen Sterblichkeitsrate aufweist. Das Verständnis der dahinterliegenden neuronalen Mechanismen führt vielleicht nicht zu einem Wundermedikament, kann jedoch laut des Expertenteams den Weg zu innovativen Therapien gegen Essstörungen ebnen. Originalpublikation: Gamma oscillations organize top-down signaling to hypothalamus and enable food seeking Marta Carus-Cadavieco et al.; nature, doi: 10.1038/nature21066; 2017