Die Impfquoten beim Grippeschutz liegen in Deutschland weit unter der als Minimum geforderten Impfrate von 75 Prozent. Auch medizinisches Personal ist oft nicht geimpft. Gründe dafür scheinen eine falsche Risikoeinschätzung und mangelndes Ethikempfinden zu sein. Was tun?
So lässt sich das ehrgeizige Schutzziel der EU im Kampf gegen die Influenza sicher nicht erreichen. Was dabei jedoch oft aus den Augen verloren wird: Selbst diejenigen, die Risikopatienten beraten, impfen und versorgen sollen, nämlich Ärzte und Pflegekräfte, sind häufig nicht geimpft. Aktuelle Studien haben einmal beleuchtet, woran das liegt und vor allem, wie diesem Problem auf Dauer begegnet werden könnte. Die niedrigen Impfraten in vielen Ländern Europas und der Welt sind derzeit eine der größten Unsicherheiten bei der Eindämmung der saisonalen und einer möglicherweise drohenden pandemischen Influenza. Vielfach sind die Gründe, weshalb die Impfung nicht angenommen wird, noch wenig bekannt. Doch ohne diese Kenntnis lassen sich keine effektiven Strategien entwickeln, um in Zukunft besser über die Wichtigkeit der Impfung zu informieren, die Akzeptanz des Impfstoffes zu erhöhen und auch die allgemeine Bereitschaft zur Grippeschutzimpfung zu steigern.
Eine Übersichtsarbeit der Universität Erfurt wertete überwiegend US-amerikanische und europäische Studien zu diesem Thema aus. Es zeigte sich dabei, dass soziodemographische Faktoren, aber auch früheres Impfverhalten bei Ärzten und Pflegekräften den Ausschlag gaben, ob diese sich gegen Grippe impfen ließen oder nicht. Besonders interessant ist zudem, dass einige Mediziner und Pflegekräfte keine ausreichende ethische Verpflichtung empfinden, sich zum Schutz ihrer Patienten impfen zu lassen. Darüber hinaus gaben einige der in den Studien befragten Pflegekräfte an, zumindest die saisonale Influenza sei ja gar nicht so gefährlich. In der Folge liegen die Impfraten beim medizinischen Personal vielerorts zu niedrig, um nosokomiale Influenza-Infektionen effektiv zu verhindern.
Eine andere Studie deutscher Wissenschaftler untersuchte Möglichkeiten, um die Impfbereitschaft bei medizinischem Personal zu erhöhen. Dabei standen zwei kulturelle Systeme Modell:
Interessant war, dass die Impfung in Südkorea sehr gut akzeptiert wurde, wenn das Impfen als prosoziale Maßnahme angeboten wurde, indem man den Schutz des Allgemeinwohls betonte. In den USA, deren gesellschaftliches System mit Deutschland und den anderen individualistisch geprägten EU-Staaten vergleichbar ist, war ein solcher Ansatz weniger erfolgreich, da das gesellschaftliche Kollektiv hier weniger im Fokus steht. Interessant war, dass die Impfung in Südkorea, wenn sie als prosoziale Maßnahme angeboten wurde, indem der Schutz des Allgemeinwohls betont wurde, sehr viel einfacher akzeptiert wurde als in den USA, deren gesellschaftliches System mit Deutschland und den anderen individualistisch geprägten EU-Staaten vergleichbar ist. Auf der anderen Seite zeigte sich in den USA ein System erfolgreich, bei dem das medizinische Personal bewusst von der Grippeschutzimpfung zurücktreten musste („opt-out“-Ansatz), anstatt sich dafür zu entscheiden („opt-in“-Ansatz). Dieses Vorgehen sorgte für eine steigende Impfrate bei US-amerikanischen Medizinern und beim Pflegepersonal.
Paternalistische Ansätze mit einem gewissen Drang zur Impfung zeigten sich bisher als wenig erfolgreich bei der Umsetzung der Grippeschutzimpfung. Genausowenig jedoch wirken soziale oder kollektivistisch motivierte Ansätze in einer überwiegend individualistisch geprägten Gesellschaft wie der unsrigen. Ein interessanter Weg könnten sogenannte „opt-out“-Impfangebote sein, bei denen das medizinische Personal aktiv einer Teilnahme widerspricht, indem es zum Beispiel einen bereits vorgebuchten Impftermin absagt. Die Impfung wird bei diesem Vorgehen also stattfinden, wenn der zu Impfende passiv bleibt und zum Termin erscheint. Dieser Ansatz führt offenbar eher zum Impferfolg als der umgekehrte Fall des „opt-in“. Dabei muss der zu Impfende bei meist unsicherer Impfentscheidung erst einen Termin für die Schutzimpfung anfordern, die Impfung also aktiv einfordern. Daneben gilt, dass die Patienten natürlich auch selbst eine Verantwortung für den Eigenschutz haben, sofern dies über die Grippeschutzimpfung bei ihnen möglich ist. Auch hier deutet sich an, dass individualisierte und auf das persönliche Risiko einer Influenza-Infektion ausgerichtete Beratungsangebote wirksamer sein könnten. Gilt also letztlich in Bezug auf die Grippeschutzimpfung für Patienten sowie medizinisches Personal gleichermaßen: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht?“ Originalpublikationen: Why are older adults and individuals with underlying chronic diseases in Germany not vaccinated against flu? A population-based study Bödeker et al.; BMC Public Health, doi: 10.1186/s12889-015-1970-4; 2015 Exploring and Promoting Prosocial Vaccination: A Cross-Cultural Experiment on Vaccination of Health Care Personnel Böhm R. et al.; BioMed Research International, doi: 10.1155/2016/6870984; 2016 Barriers of Influenza Vaccination Intention and Behavior – A Systematic Review of Influenza Vaccine Hesitancy, 2005 – 2016 Schmid P, Rauber D, Betsch C, Lidolt G, Denker M-L; PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0170550; 2017