In „Nature“ kritisieren Biomediziner, viele Arzneistoffe würden zu leichtfertig am Patienten getestet. Wirkstoffe würden in klinische Studien aufgenommen, obwohl es zu wenige Belege für den eigentlichen Effekt gebe. Sie fordern, Moleküle stärker im präklinischen Bereich zu selektieren.
Ein Blick zurück: Am 15. Januar 2016 kam es im französischen Rennes zu schwerwiegenden Zwischenfällen. Bei einer klinischen Studie der Phase I sollte BIA 10-2474, ein experimenteller Inhibitor der Fettsäureamid-Hydrolase, getestet werden. Mehrere Probanden litten an schweren neurologischen Nebenwirkungen, und ein Teilnehmer starb. In „Nature“ weisen Jonathan Kimmelman und Carole Federico von der McGill University, Montreal, auf einen weiteren Aspekt hin: Viele Arzneistoffe würden in klinische Studien aufgenommen, obwohl es zu wenige Belege für den eigentlichen Effekt gebe.
Beide Autoren zitieren aus einem Bericht zu BIA 10-2474. Französische Behörden monierten nicht nur Fehler im Studiendesign. Sie kritisierten außerdem, dass es kaum Belege für die pharmakologische Aktivität des Moleküls gäbe. Zuvor waren fünf Wirkstoffkandidaten in klinischen Studien der Phase I gescheitert. Dabei handele es sich um keinen Einzelfall, heißt es weiter. Versuchen forschende Hersteller, Zeit zu gewinnen? Zum Hintergrund: Steven M. Paul von Eli Lilly and Company, Indianapolis, nennt als durchschnittliche Entwicklungsdauer eines neuen Wirkstoffs 11,4 bis 13,5 Jahre. Die Kosten summieren sich auf 1,0 bis 1,6 Milliarden US-Dollar. Ob frühe klinische Studien dazu beitragen, Zeit und Geld zu sparen, bezweifeln Experten. Kimmelman und Federico fordern, stärker über vorklinische Tests zu selektieren. Das können Tests in Zellkulturen, in künstlichen Organen (Organ-on-a-chip) oder in Tieren sein. Derzeit scheitert jeder zweite neue Wirkstoffkandidat erst spät in Phase-II- und -III-Studien aufgrund fehlender Effekte. Hersteller verbrennen an diesen Stellen Unmengen an Geld.
Die Autoren nehmen in ihrem Beitrag aber auch Zulassungsbehörden in die Pflicht. Momentan würden nur Belege für die Sicherheit, aber nicht für die Wirksamkeit gefordert. Oft hätten Forscher ungeeignete Tiermodelle verwendet, und viele Daten ließen sich nicht reproduzieren. Zu ähnlichen Einschätzungen kam das Team von „Reproducibility Project: Cancer Biology“. Wissenschaftler versuchten, Experimente aus onkologischen Veröffentlichungen zu wiederholen. Jetzt liegen erste Resultate vor. Wissenschaftlern gelang es, zwei von fünf Arbeiten weitgehend – wenn auch nicht vollständig – zu reproduzieren. Gerade bei präklinischen Daten werden gescheiterte Experimente nicht publiziert, und genaue Versuchsbedingungen fehlen. Die National Institutes of Health (NIH) haben kürzlich ein Manual für präklinische Projekte veröffentlicht. Darin empfehlen sie unter anderem, wissenschaftliche Journale sollten mehr Wert auf den Methodenteil und auf Rohdaten legen. Kimmelman und Federico denken in eine ähnliche Richtung. Sie fordern, unabhängigen Prüfungskomitees (IRC) Zugriff auf alle Daten zu gewähren. Dazu gehört auch die Frage, wie andere Vertreter einer bekannten Wirkstoffklasse in Vergleich zur neuen Substanz abgeschnitten haben.