Aufgrund seines christlichen Glaubens wollte der Chefarzt der Gynäkologie in der Capio Elbe-Jeetzel-Klinik in Dannenberg Abtreibungen verhindern. Doch wie weit reicht das Weisungsrecht eines Chefarztes gegenüber seinen Mitarbeitern? Eine juristische Einordnung.
Der aktuelle Fall: Am 1. Dezember 2016 trat Thomas Ulrich Börner die Chefarztstelle der Gynäkologie in der Capio Elbe-Jeetzel-Klinik (EJK) im niedersächsischen Dannenberg an. In seiner Einführungsveranstaltung Anfang Februar sorgte er für Unruhe: In meiner Abteilung werden künftig keine Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung mehr durchgeführt – für mich gilt das Nicht-Tötungsgebot der Bibel – so seine Erklärung.
Die Klinikleitung trug diese Chefarzt-Entscheidung mit, verwies aber auch darauf, dass Abbrüche nach einer erlittenen Vergewaltigung oder weil das Leben der Frau durch die Schwangerschaft gefährdet ist weiterhin durchgeführt würden. Sie akzeptierte damit, dass der Chefarzt diese Entscheidung nicht nur für sich persönlich, sondern gleich als Arbeitsanweisung für seine Abteilung fällte.
Als erstes meldeten sich Niedersachsens Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD) und Uta Engelhardt, Landesgeschäftsführerin des niedersächsischen Beratungsnetzwerkes Pro Familia, öffentlich zu Wort. Sie zeigten sich entsetzt, weil alternative Kliniken für betroffene Frauen 20 bzw. 40 Kilometer entfernt liegen. Viele andere bliesen in das gleiche Horn, es gab aber auch zustimmende Wortmeldungen.
Der Klinikbetreiber widerrief umgehend diese Anordnung des Chefarztes. In einer Pressemitteilung hieß es: „Als weltanschaulich neutrale und konfessionsübergreifende Einrichtungen würden die Capio-Kliniken auch weiterhin Abtreibungen nach der gesetzlich vorgesehenen, eingehenden Beratung ermöglichen.“ Die Betreiber respektierten, wenn der Chefarzt diese Entscheidung für sich selber träfe, es solle aber geklärt werden, welche anderen Fachärzte diesen Eingriff im Haus vornehmen können. Es hieß auch, dass sich „die Wege trennen, sollte der Chef der Gynäkologie dem nicht zustimmen“. Die Würfel sind gefallen: wie die Hannoversche Allgemein Zeitung am 9. Februar berichtete, verlässt der umstrittene Chefarzt die Klinik.
Standesrechtlich ist der ärztliche Beruf ein freier Beruf (§ 1 Abs. 2 Bundesärzteordnung). Dies steht im Widerspruch zur „weisungsgebundenen Tätigkeit“ des Arbeitnehmers. Dem Krankenhausträger als Arbeitgeber steht grundsätzlich aus § 106 der Gewerbeordnung ein Weisungsrecht zu. Er kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Sofern also vertraglich (Individual- oder Tarifvertrag) oder nach der Betriebsvereinbarung nichts anderes gilt, ist der Träger befugt, nach „billigem Ermessen“ unter anderem den Inhalt der Arbeitsleistung – also den Leistungskatalog einer Klinik – näher zu bestimmen. Die Eingrenzung „nach billigem Ermessen“ heißt: Der Arbeitgeber muss die Entscheidung, welche Leistungen das Haus erbringt, unter Abwägung der Interessen sowohl des Arbeitnehmers als auch des Arbeitgebers treffen.
Auch Chefärzte sind angestellte Ärzte. Sie haben den sachlichen und ökonomischen Entscheidungen ihrer Arbeitgeber (Klinikträger) zu folgen. Zugleich sind sie fachliche Vorgesetzte der Mitarbeiter ihrer Abteilungen und vertreten ihr Fachgebiet medizinisch selbstständig. Sie tragen die Gesamtverantwortung für die ärztliche Versorgung der Patienten ihrer Abteilung. Denn jeder Arzt übt seinen Beruf entsprechend der geltenden Berufsordnung als freien Beruf aus. Er darf seine ärztlichen Entscheidungen nicht von Weisungen nichtärztlicher Vorgesetzten abhängig machen. Das dem Krankenhausträger als Arbeitgeber zustehende Weisungsrecht endet folglich dort, wo diese Weisungen in den ärztlichen Bereich eingreifen. Jede Entscheidung, die medizinisches Fachwissen voraussetzt, darf nur von einem Arzt getroffen werden. Hier hat sich die Klinikleitung rauszuhalten. Dies bedeutet: Welche Leistung von einem Krankenhaus erbracht wird, entscheidet der Träger. Wie diese Leistung erbracht wird, unterliegt verantwortlich dem Weisungsrecht des Chefarztes.
Die umstrittene Weisung des gynäkologischen Chefarztes fußte jedoch nicht auf dessen medizinischem Fachwissen. Sie war eine Folge seiner religiösen Einstellung. Die Religionsfreiheit ist eines der zentralen im Grundgesetz verankerten Rechte eines jeden Menschen in Deutschland. Art. 4 des Grundgesetzes: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Kein Arzt kann daher gezwungen werden, Abtreibungen durchzuführen, wenn dies seinem Glauben widerspricht. Kann aber ein Chefarzt diese Entscheidung auch für jeden seiner ihm fachlich unterstellten Mitarbeiter treffen? Oder andersherum: Kann ein konfessionsloses Haus einem Chefarzt zumuten, dass dessen Abteilung Leistungen erbringt, die seinem Glauben diametral entgegenstehen? Nach dem oben gesagten schon, denn der Träger entscheidet welche Leistung erbracht wird, der Chefarzt entscheidet wie sie erbracht wird, er trägt dann aber auch hierfür die Verantwortung. Im schlimmsten Fall kann dies bedeuten: Der Chefarzt muss – obwohl diese Leistungen seiner Überzeugung widersprechen – die fachliche Verantwortung für die fachgerechte Leistungserbringung tragen. Er steht folglich in der Haftung, wenn die betroffene Patientin bei einem dieser Eingriffe zu Schaden käme. Kann dies richtig sein?
Immer wieder sind arbeitsrechtliche Streitigkeiten zwischen kirchlich getragenen Einrichtungen und deren Arbeitnehmern höhergerichtlich (Bundesarbeitsgericht bis hin zum Bundesverfassungsgericht) geklärt worden. Nach ständiger Rechtsprechung unterliegen Mitarbeiter kirchlicher Krankenhäusern nicht nur dem staatlichen Arbeitsrecht, sondern zusätzlich kirchlichen Vorschriften. Nach Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 3 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung findet das verfassungsmäßig garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirche auch in allen ihr zugeordneten karitativen Einrichtungen Anwendung. Dies garantiert den Religionsgesellschaften die Freiheit, ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Eigene Angelegenheiten in diesem Sinne sind auch die Rechte und Pflichten der Mitglieder der einzelnen Religionsgemeinschaft (BVerfG - Beschluss Oktober 2014, Rn 110 ff). Problematisch war insbesondere in katholischen Krankenhäusern, inwiefern auch außerdienstliche Loyalitätspflichten (Scheidung und Wiederheirat, Lebenspartnerschaften oder den Austritt aus der Kirche) bestehen. Mehrfach wurde gestritten, ob Loyalitätsverletzungen dieser Art arbeitsrechtliche Konsequenzen haben können, gegebenenfalls bis hin zur Kündigung. Oftmals wurde dies bejaht. Die Komplexität lässt sich vielleicht daran ablesen, dass im Sommer 2016 das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegte, ob es diskriminierend ist, wenn ein kirchlich getragenes Haus von einem der Kirche angehörendem leitenden Angestellten anderes Verhalten verlangt als von Arbeitnehmern, die keiner oder einer anderen Kirche angehören (BAG 2. Senat, 28.07.2016, Az 2 AZR 746/14 (A), EuGH-Vorlage). Jedenfalls erkennen bislang sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesarbeitsgericht das Selbstbestimmungsrecht der katholischen Kirche in ständiger Rechtsprechung an. So wurde zum Beispiel 2013 der Austritt aus der Kirche als eine die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigende Loyalitätsverletzung gewertet. Ein Chefarzt, Angestellter einer weltanschaulich neutralen und konfessionsübergreifenden Einrichtung wie den Capio-Kliniken, kann dieses dem kirchlichen Träger eines Krankenhauses zustehende Selbstbestimmungsrecht nicht für sich und seine Abteilung in Anspruch nehmen. Denn die Rechtsgrundlage, aus der heraus kirchlich getragenen Einrichtungen Sonderrechte zustehen, greift nur für Religionsgemeinschaften, nicht aber für einzelne Personen aus dieser Gemeinschaft. Nur die jeweiligen verfassten Religionsgemeinschaften sind – ungeachtet ihrer rechtlichen Organisationsform – Träger des in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts (Bundesverfassungsgericht, 23.09.2010 Az. 2 BvR 278/11, Beschluss, Rn 52). Der Chefarzt als natürliche Person und Mitglied einer solchen Kirchengemeinschaft kann die Rechte hieraus nicht für sich in Anspruch nehmen. Ihm kann daher nur dazu geraten werden, als Arbeitgeber ein kirchliches Haus zu suchen, in dem seine Ansichten vertreten werden. Diese Einsicht hatte er selber wohl auch, denn wie gesagt, er hat die Konsequenzen gezogen und ist gegangen.