Medizinstudium trotz Behinderung? Früher undenkbar, heute kein Problem mehr. Doch welche Hürden warten auf dem langen Weg zum Studienabschluss? Und wie gehen Medizinstudenten mit ihren behinderten Kommilitonen um? Wir haben uns umgehört.
Befragt man das aktuelle Sozialgesetzbuch werden Menschen als behindert bezeichnet, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Geht man ausgehend von dieser recht abstrakten Beschreibung etwas tiefer ins Detail in Richtung Mensch, zeigt sich zunächst die große Vielfalt an verschiedenen Formen der Behinderung. Neben physischen Formen wie Lähmungen, die den Betroffenen beispielsweise an einen Rollstuhl fesseln, können auch Sprache, Denken, Sinneswahrnehmung und Sozialverhalten betroffen sein. Besonders letztgenannte "Handicaps" sieht man dem Menschen häufig nicht an, wie auch bei Maria* aus Hannover. "Von Geburt an bin ich schwerhörig und habe daher auch einen Behindertenausweis", erzählt sie über ihren Gesundheitszustand. "Obwohl ich die ersten Schuljahre auf Sonderschulen zugebracht habe, konnte ich für das Abitur aufgrund sehr guter Noten auf ein normales Gymnasium wechseln und habe dann sogar einen Studienplatz für mein Wunschfach ergattert." Was sich auf den ersten Blick aber liest wie ein kleines Märchen, ist für Maria - seit sie denken kann - mit harter Arbeit verbunden: "Besonders in den Vorlesungen und bei Patienten-Interviews verliere ich trotz Lippenlesen schnell den Faden, und wenn ich dann abends zuhause bin, sitze ich meist noch bis spät in die Nacht am Schreibtisch, um den Unterrichtsstoff mit Hilfe von Lehrbüchern und digitalen Vorlesungsmaterialien nachzuarbeiten. Ohne zeitintensive Vor- und Nachbereitung wäre das Medizinstudium kaum zu schaffen", gewährt uns Maria einen Einblick in ihre tägliche Lernroutine. Gut eingespieltes Team Der deutlich höhere Lernaufwand ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Schließlich ist das Medizinstudium durch verschiedenste Änderungen und Reformen der Studienordnung in letzter Zeit deutlich praxisorientierter und interaktiver geworden, sodass ein erfolgreicher Student neben Fleiß und Lerneifer auch eine ordentliche Portion Teamgeist an den Tag legen muss. Ein Handicap eines Gruppenmitglieds kann schnell das ganze Team vor neue Herausforderungen stellen. "Zu Beginn des Studiums war ich vor Gruppenarbeiten oder auch dem Präparierkurs immer ziemlich nervös", erinnert sich Maria an ihre ersten beiden Semester. "Ich trage ja kein Schild um den Hals, auf dem steht, dass ich schwerhörig bin. Daher sind viele erstmal irritiert, wenn ich ihnen auf den Mund schaue oder mich nicht umdrehe, wenn jemand meinen Namen ruft", erklärt Maria die Probleme beim Erstkontakt mit Kommilitonen. "Glücklicherweise sind meine Gruppenmitglieder meist super lieb und helfen mir oftmals sogar rücksichtsvoll in Situationen, in denen ich mal wieder schwer von Begriff bin." Ihr Kommilitone Jan stimmt sofort zu: "Natürlich war das zunächst im Präpsaal eine neue Situation, aber mittlerweile sind wir ein gut eingespieltes Team und Marias Besonderheit wird von Niemanden als Behinderung erlebt. Zusammen haben wir schließlich alle unsere Anatomie-Testate mit gutem Ergebnis in die Tasche stecken können." Neben Zuspruch und Unterstützung treffen Studierende mit Handicap aber leider immer noch auf Unverständnis auf Seiten einiger Kommilitonen. Jessica* aus Göttingen, die sehbehindert ist, kennt solche unschönen Situationen: "Aufgrund meiner Sehbehinderung bin ich auf einen Blindenhund angewiesen, der natürlich auch mit in den Hörsaal muss. Leider haben viele Kommilitonen kein Verständnis, äußern Ängste vor dem Hund oder befürchten Niesattacken aufgrund von Tierhaarallergien. Zwar kann ich solche Einwände verstehen, die Art und Weise wie die Mitstudenten aber dann mit mir und meinem Hund Mira umgehen, finde ich weniger schön." Erfahrungen von der anderen Seite Wie man am Beispiel des Blindenhundes erkennen kann, ist der Gang in den Hörsaal für sich schon eine enorme Herausforderung und erfordert neben Fleiß auch eine gehörige Portion Mut und Selbstbewusstsein. Zudem ist gerade das Medizinstudium mit hohem Zeitaufwand und fordernden Lehrplänen assoziiert. Sensibilisieren die eigene Krankheitsgeschichte und regelmäßiger Kontakt mit Ärzten vielleicht ganz besonders für medizinische Themen? Maria kann letztere Frage ziemlich klar mit einem Ja beantworten: "Schon als kleines Mädchen haben mich die regelmäßigen Arztbesuche und die verschiedenen Untersuchungen total fasziniert. Daher wollte ich eigentlich – seit ich denken kann – Medizin studieren. Da ich bislang auch immer wieder auf überforderte und unfreundliche Ärzte gestoßen bin, die mich nicht immer gut behandelt haben, möchte ich genau das später einmal besser machen." Und die Chancen dafür, dieses Ideal in die Tat umzusetzen, stehen ziemlich gut. Schließlich hat sie nun Erfahrungen auf beiden Seiten gesammelt. "Einerseits weiß ich ja bereits durch meine Erkrankung, wie sich die Patientenrolle anfühlt. Andererseits erwerbe ich gerade das medizinische Know-how und sozialpsychologische Kenntnisse. Fasst man das beides zusammen, ergibt das einen reichen Erfahrungsschatz", bringt Maria die positiven Aspekte ihrer besonderen Situation auf den Punkt. Raus aus der Tabuthema-Ecke Neben verständnis- und rücksichtsvollen Kommilitonen sind Medizinstudenten mit Handicap auch auf eine möglichst barrierefreie Universität angewiesen. Schon allein die örtlichen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten können für Menschen mit Behinderung den selbstverständlichen Weg zum Hörsaal in einen gewaltigen Kraftakt verwandeln: "Einige große Treppen in eher älteren Gebäuden der Uni sind mit dem Rollstuhl allein kaum zu erklimmen", erzählt Lukas* aus Braunschweig, der dort medizinische Informatik studiert. "Zunächst hatte ich immer Horror, wenn ich in diese Gebäude musste. Mittlerweile gibt es aber immer mehr Rampen und Fahrstühle, oder ich lass mir einfach von trainierten Kumpels helfen." Glücklicherweise rückt das Thema Behinderung gerade im Bereich der Medizin immer weiter aus der Tabuthema-Ecke und wird auch in den Hörsälen gesellschaftsfähig. So gibt es eigene Beratungsstellen der Studentenwerke und zahlreiche Internetportale, die Studenten mit Behinderung reichlich Raum zum Austausch geben. Zudem bieten heute sogar die einzelnen Universitäten Sprechstunden und zielgruppenspezifische Informationen an. Zusammengefasst kann man also sagen: Studieren mit Handicap ist eine Herausforderung, aber möglich.