Es herrscht offenbar großer Nachholbedarf in der geschlechterspezifischen Medizin: Frauen sterben häufiger an Herzinfarkten, dafür besiegen sie den Darmkrebs häufiger als Männer. Auch Medikamente wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich.
Der Ruf nach Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist allgegenwärtig. Nur Mediziner fordern, endlich besser zwischen Männern und Frauen zu differenzieren. "Dass Männer und Frauen eine unterschiedliche medizinische Versorgung benötigen, wird bisher ignoriert", schreiben italienische Forscher um Giovanella Baggio von der Universität Padua in ihrem Aufruf zu einer geschlechtsspezifischen Medizin. Nicht nur beim Herzinfarkt, sondern auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen zeigen Frauen und Männer unterschiedliche Symptome und reagieren anders auf pharmakologische und invasive Therapien. Frauen und Männer weisen auch vielfach unterschiedliche Risikofaktoren für die Krankheitsentstehung, den Krankheitsverlauf und Behandlungsrisiken auf. Ebenso nehmen sie Präventionsangebote meist unterschiedlich wahr. Frauenherzen schlagen anders Nach wie vor gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den häufigsten Todesursachen in den Industrienationen, die immer noch als typische "Männererkrankungen" wahrgenommen werden. Doch während in den letzten 30 Jahren immer weniger Männer an koronaren Herzerkrankungen starben, stagnierte die entsprechende Zahl bei den Frauen. In Krankenhäusern sterben mehr Frauen an einem akuten Herzinfarkt als Männer, und auch die 6-Monats-Überlebensrate nach einem solchen Infarkt ist bei Frauen niedriger. Was stimmt da nicht? Die Zulassungsverfahren für Medikamente stützen sich hauptsächlich auf männliche Probanden. So werden Studien zu kardiovaskulären Erkrankungen seit Jahrzehnten hauptsächlich an Männern durchgeführt, unter anderem, weil bei Männern weniger hormonelle Schwankungen auftreten, die die Ergebnisse beeinflussen und verfälschen können. Herzinfarkt und Co sind aber laut den Studienautoren der Hauptgrund für Invalidität und Todesursache Nummer eins bei Frauen über 65. Auch die Vorboten eines Herzinfarktes äußern sich bei Frauen anders als bei Männern und werden daher nicht selten schlichtweg als solche übersehen. Frauen verspüren seltener die typischen Anzeichen einer Belastungsangina, bei der nach Anstrengung ein beklemmender Schmerz in der linken Brust auftritt. Während sich ein "männlicher" Herzinfarkt in akut auftretenden Schmerzen und einem Engegefühl in der linken Brustseite, Blässe und kaltem Schweiß äußert, treten bei Frauen eher Atemnot, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Schwindel, ungewöhnliche Müdigkeit und Übelkeit auf. Diese Symptome erkennen die Betroffenen und ihre Angehörigen nur selten als Vorboten eines Herzinfarkts. So geht wertvolle Zeit verloren bis entsprechende Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Und obwohl Herzinfarkte bei Frauen schwerwiegender und komplizierter verlaufen als bei Männern, erhalten sie bei diesen unspezifischen Beschwerden oftmals auch im Krankenhaus nicht die notwendigen Untersuchungen wie EKG oder Enzymdiagnostik. Risikofaktoren treffen Frauen härter Das Übel beginnt wohl bereits mit den Risikofaktoren, die sich bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Männern und Frauen unterschiedlich auswirken. Rauchen beispielsweise erhöht das Risiko, eine koronare Herzerkrankung zu erleiden, um 70 Prozent. Das ist bei Männern und Frauen etwa gleich. Es gibt jedoch immer weniger männliche Raucher. Gerade junge Frauen scheinen diesem Laster nach wie vor gerne zu frönen. Auch Bluthochdruck, ebenfalls ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen, kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Ein weiteres Beispiel ist der Typ-2 Diabetes: Er erhöht das Risiko für Frauen, an einer koronaren Herzerkrankung zu leiden oder gar zu sterben drei- bis siebenfach, bei Männern nur zwei- bis dreifach. Frauen sind außerdem anfälliger für psychosoziale Befindlichkeitsstörungen wie Depressionen, Angsterkrankungen und chronisch psychosozialen Stress, die wiederum das Herz-Kreislauf-System negativ beeinflussen. Doch damit nicht genug. Selbst wenn eine kardiovaskuläre Erkrankung erkannt wurde, gibt es extreme Unterschiede im Ansprechen der Therapie. Aspirin wirkt bei Männern anders als bei Frauen Dass Kinder keine "kleinen Erwachsenen" sind, die Arzneimittel einfach in niedrigerer Dosierung verabreicht bekommen sollten, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Doch selbst Frauen und Männer reagieren unterschiedlich auf verschiedene pharmakologische Substanzen. Während beispielsweise Acetylsalicylsäure in niedrigen Dosen das Schlaganfallrisiko bei Frauen reduziert, ohne das Risiko eines Herzinfarktes zu beeinflussen, wirkt sie bei Männern offenbar genau umgekehrt. Studien zeigten, dass Aspirin das Risiko für Männer, einen Herzinfarkt zu erleiden, um etwa 30 Prozent senken kann, während das Risiko für einen Schlaganfall davon unberührt bleibt. Wie kann das sein? Baggio und ihr Team machen dafür den unterschiedlichen Körperbau von Frauen und Männern sowie die verschiedenen Aufnahme- und Abbaugeschwindigkeiten von Medikamenten verantwortlich. Auch der unterschiedliche Hormonstatus von Männern und Frauen kann dazu beitragen, dass Wirkungen und Nebenwirkungen anders zutage treten. Und das gilt nicht nur für Aspirin. In zahlreichen Studien wurden erhebliche Unterschiede in der Pharmakokinetik bei Männern und Frauen nachgewiesen. Die Arzneimittel unterscheiden sich sowohl in ihrer Bioverfügbarkeit und Absporption, als auch in ihrer Verteilung im Körper, ihrem Proteinbindungsverhalten und bei der Ausscheidung aus dem männlichen oder weiblichen Körper. Die wichtigsten, bisher bekannten Unterschiede sind:
Krebserkrankungen Darmkrebs steht bei Männern wie Frauen auf Platz zwei der häufigsten Krebserkrankungen. Doch auch hier unterscheiden sich die Geschlechter: Hier sind die Frauen ausnahmsweise etwas besser dran als die Männer, denn sie erkranken durchschnittlich fünf Jahre später als Männer. Die Tumore bei Frauen befinden sich hauptsächlich im rechten Darm und sind meist schon in einem fortgeschrittenen Stadium, wenn sie entdeckt werden. Trotzdem besiegen mehr Frauen als Männer ihren Darmkrebs, da sie besser auf bestimmte chemische Therapiesubstanzen ansprechen. Auch bei anderen Krebsarten wie Lungen- oder Hautkrebs sprechen Männer und Frauen unterschiedlich auf Chemotherapien an. Das wiederum beeinflusst den Verlauf der Krankheit und die Überlebenschancen der Patienten. Typische Frauenerkrankungen? Die primäre biliäre Zirrhose ist eine Lebererkrankung, die überwiegend bei Frauen auftritt. Hier stellen vor allem die weibliche genetische Disposition (X-Chromosom) und eine unterschiedliche Hormonverteilung ein Erkrankungsrisiko dar. Dies scheint auch bei der Osteoporose, die als typische Frauenkrankheit wahrgenommen wird, der Fall zu sein. In der Tat sind weit mehr Frauen als Männer am sogenannten Knochenschwund erkrankt, doch auch Männer können betroffen sein. So dokumentierten Baggio und ihr Team die Zahlen höherer Mortaliät nach Frakturen bei Männern, um auch die männlichen Betroffenen zurück ins Gedächtnis der Mediziner zu rufen. Was muss sich ändern? Die Forscher fordern eine stärkere Orientierung von Dosis und Behandlungsdauer am Geschlecht für eine sichere und effiziente Therapie. Zudem kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass künftig auch klinische Versuche diese Unterschiede stärker berücksichtigen müssten. Nur dadurch könnten die grundsätzlichen Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung von Männern und Frauen beendet werden. Auch die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. fordert ein Umdenken in der Medizin. Beide Geschlechter würden profitieren, wenn: