Etwa 30 Prozent aller Patienten verlassen eine Arztpraxis mit körperlichen Beschwerden, aber ohne Befund. Menschen mit somatoformen Störungen belasten die Sozialversicherungssysteme enorm.
Der Patient Herr S. verspürt Schmerzen in der linken Brustseite. Er geht zum Hausarzt – dieser klärt grob ab: alle Befunde unauffällig. Herr S. bekommt ein Schmerzmittel. Die Schmerzen verstärken sich. Auch der Internist kann keine pathologischen Werte feststellen. Herr S. wird zur genaueren Untersuchung in ein Krankenhaus eingewiesen. Auch hier bleibt nach umfassenden Abklärungen alles o.B.. Organisch ist alles in Ordnung. Doch die Beschwerden nehmen zu. Herr S. kann nicht mehr schlafen, wenig später auch nicht mehr arbeiten. Er leidet unter einer somatoformen Störung. Dabei nehmen die Betroffenen Beschwerden wie bei einer körperlichen Erkrankung wahr, ohne dass jedoch eine solche vorliegt. Die Symptome werden ausschließlich durch das Nervensystem vermittelt und können sich vielfältig äußern: Am häufigsten sind Rücken- oder Kopfschmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit sowie Übelkeit, Reizdarm oder Atemnot. Ärzte finden hierfür jedoch keine hinreichende organische Erklärung. "Ausschlaggebend sind vielmehr seelische oder soziale Faktoren", so Professor Dr. med. Wolfgang Herzog, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Krank ohne Befund Auch Dr. med. Manfred Stelzig, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeut für Psychoanalyse und Psychodrama, hat sich dem Thema angenommen. Er nennt sein im März 2013 erschienenes Buch mit dem Titel "Krank ohne Befund" eine Anklageschrift. Denn seit Jahrzehnten wachse die Fachliteratur, die sich mit eben dieser Problematik beschäftigte. Die seit Jahren vorgetragenen sachlichen Argumente würden zwar höflich, interessiert und durchaus beipflichtend zur Kenntnis genommen – trotzdem aber würde stur am eingefahrenen System zur Behandlung organischer Erkrankungen festgehalten. Und das nicht nur zum Leidwesen der Patienten. Auch den Sozialversicherungsträgern entstünden dadurch enorme Kosten. Denn somatoforme Störungen sind kein Nischenproblem. Ein Drittel aller Patienten betroffen "30 Prozent der Patienten kommen mit psychischen Problemen in eine Hausarztpraxis und treffen dort auf ein System, das sie in erster Linie somatisch versorgt", so Dr. Matthias Burkard, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychoanalyse und Psychotherapie des DRK Klinikums Berlin Westend. "Wobei sich die Zahl deutlich erhöht, nämlich bis zu 50 Prozent, wenn man nicht die Zahl der Patienten, sondern die Untersuchungen misst. Je nach Fachspezialisierung schwanken die Häufigkeiten zwischen 37 Prozent in der Zahnmedizin und 66 Prozent in der Gynäkologie", schreibt Stelzig. High Utilizer Patienten mit einer Somatisierungsstörung gehören zu den sogenannten "high utilizern" des Gesundheitsversorgungssystems, die die Sozialsysteme insgesamt neunmal so stark belasten wie ein Durchschnittspatient. Mehrfachdiagnostik, häufige Hospitalisierung und Krankheitstage produzieren enorme Kosten. Die "Krank ohne Befund"-Patienten verursachen laut Stelzig im ambulanten Bereich im Mittel 14-fach höhere Kosten als die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Die stationären Kosten belaufen sich auf das Sechsfache. "Unser Gesundheitssystem finanziert jegliche körperliche Untersuchungen, aber für ein Gespräch fehlt es Ärzten meist an Zeit und finanziellem Anreiz“, kritisiert Herzog. Warum wehrt sich keiner dagegen? Fokus auf somatische Erkrankungen zu stark Das größte Problem sei das Nichtwissen der Betroffenen. Stelzig fasst es folgendermaßen zusammen: "Der leidende Mensch wünscht sich eine Operation, ein Pflaster, ein Medikament. So ist er aufgewachsen. So hat er es gelernt. Und leider haben sich auch die meisten Ärzte daran gewöhnt." Der kollektive Aufschrei bleibe aus, weil den meisten Menschen immer noch nicht klar sei, dass ihre Psyche als Reaktion auf vielfältige Überforderung Schaden nimmt und auch körperliche Symptome damit verbunden sein können. Zu stark seien die jahrzehntelang überlieferten Muster, dass Schmerzen oder andere körperliche Beschwerden eine organische Ursache haben müssen. Als mögliche Hintergründe kommen aber unter anderem eine somatisierte Depression, eine Angststörung, körperliche Folgezustände eines psychischen Traumas oder somatoforme beziehungsweise funktionelle Störungen infrage - ein komplexes Wechselspiel aus Faktoren wie genetischer Veranlagung, sozialen Problemen und psychischen Belastungen. Doch diese Diagnosen würden bei mehr als der Hälfte der Betroffenen nicht gestellt, so Stelzig. Das sei traurig für die Patienten und beschämend für unser Gesundheitssystem. Dicke Krankenakten, lange Leidenswege "Körperlich krank zu sein ist gesellschaftlich akzeptiert", weiß Stelzig; "seelisch belastet zu sein, unter Stress zu leiden, ist ebenfalls anerkannt." Jedoch seelisch so zu leiden, dass sich eine seelische oder körperliche Erkrankung entwickelt, das sei nicht nur anerkannt, sondern stigmatisiert und abgewertet. Es löse Angst aus und werde mit Ausstoßungstendenzen von der Gesellschaft bestraft. Ein möglicher Grund, warum "Krank ohne Befund"-Patienten oft jahrelange Ärzteodysseen hinter sich haben, bevor sie richtig behandelt werden. "Patienten mit somatoformen Störungen kommen in der Regel erst nach sieben Jahren mit einer dicken Krankenakte zu uns", so Dr. Burkard. Dabei sind somatoforme Störungen seit 1992 auch im europäischen Krankheitsverzeichnis des ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) enthalten. Wo also liegt das Problem? "Wir können die Phänomene benennen, eine Diagnose erstellen und einen sinnvollen Behandlungsplan anbieten", schreibt der sich selbst als verärgert bezeichnende Lehrbeauftragte an der Privaten Medizinischen Paracelsus-Universität Salzburg, der Donau-Universität Krems und der Universität Innsbruck, Stelzig. Das Problem sei nur, dass das Wissen über die Fakten sich viel zu wenig in den Köpfen der Ärzte, aber auch der Betroffenen Platz verschafft habe. Doch genug gejammert, wie könnten wir es besser machen? Therapeutische Möglichkeiten Zunächst sei ein vertrauensvoller Umgang des Arztes mit seinem Patienten wichtig. "Es ist unabdingbar, genügend Zeit aufzuwenden, um dem Patienten die Mechanismen zu erklären, in ihm Verständnis zu wecken und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Wenn im Hintergrund der Druck eines überfüllten Wartezimmers spürbar ist, wird es kaum möglich sein, ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen", schreibt Stelzig. In diesem Fall empfiehlt er, auch wenn der finanzielle Anreiz dazu gering sei, einen Extratermin zu vereinbaren und/oder an einen Facharzt für Psychiatrie oder psychotherapeutische Medizin zu überweisen. Auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist wichtig. Die schlimmste Meldung laute: "Sie haben nichts." Ähnlich kontraproduktiv seien Aussagen wie: "Organisch sind sie gesund, dann muss es wohl psychisch oder psychosomatisch sein." Auch gut gemeinte Ratschläge wie auszuspannen, einen Gang herunter zu schalten oder Urlaub zu machen würden den Widerstand des Patienten hervorrufen und nicht zur Lösung des Problems führen, so Stelzig. Ein wesentlicher Beitrag zur Schulung von Haus- und anderen Fachärzten war die Aufnahme der sogenannten Psychosomatischen Grundversorgung in die ambulante Versorgung (Psychotherapie-Vereinbarungen der KBV und der Krankenkassen 1987) und in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (1992). Dabei können sich Ärzte in Akademien und Instituten in Psychosomatischer Grundversorgung qualifizieren. speziALL geht neue Wege Weil gerade bei schwereren Verläufen eine Behandlung durch Hausarzt und Psychosomatiker zu empfehlen ist, hat ein Heidelberger Team ein kooperatives Therapiemodell namens "speziALL" entwickelt. Das steht für spezifische allgemeinmedizinisch-psychosomatische Kurzgruppenintervention. "Das Besondere an speziALL ist, dass Hausarzt und Psychosomatiker gemeinsam eine Gruppentherapie anbieten, und zwar in der Praxis des Hausarztes", sagt Dr. med. Rainer Schäfert, der verantwortliche Studienarzt von der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Denn viele Patienten wollen von ihrem Hausarzt behandelt werden und lehnen eine Psychotherapie zunächst ab. "Bei speziALL ist die Hemmschwelle für die Patienten erheblich niedriger", ergänzt Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Claudia Kaufmann, die verantwortliche Studienpsychologin. In zehn wöchentlichen Gruppensitzungen erhalten die Patienten Informationen zu den biologischen, sozialen und psychischen Faktoren, die die Beschwerden auslösen. Sie tauschen sich über ihre Beschwerden aus, deren Ursachen und mögliche Bewältigungsstrategien und lernen, sich zu entspannen. Deutliche Verbesserungen feststellbar Die speziALL-Gruppentherapie scheint erfolgreich zu sein: Es zeigte sich, dass sich die psychische Lebensqualität der Patienten in der speziALL-Gruppe im Vergleich zu anderen Patienten in größerem Ausmaß besserte: Sie fühlten sich weniger eingeschränkt in ihrer Vitalität, bei sozialen Kontakten oder in ihrer Arbeitseffizienz. Zudem gingen die körperlichen Beschwerden zurück. Die Zahl der Hausarztbesuche habe bei diesen Patienten nach der Therapie signifikant abgenommen. "Gesundheitsökonomisch hat speziALL ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis“, sagt Schäfert. Ein Ansatz, der Hoffnung macht und möglicherweise richtungweisend sein könnte. Zeit zum Umdenken? "In unserer westlichen Gesellschaft sind körperliche Erkrankungen stark überbetont", so Dr. Burkard. Geschätzte 90 Prozent der Mediziner würden sich ausschließlich mit somatischen Erkrankungen befassen. Dr. Stelzig fordert: "Räumen wir der Macht der Seele endlich mehr Raum ein – in der Schulmedizin.“