Bauernhofkinder leiden seltener an Allergien. Was aber tun, wenn die saubere Stadtwohnung das junge Immunsystem nicht reizen kann? Mit einem Gemisch abgetöteter Darmbakterien wollte man in einer Studie das Risiko einer atopischen Dermatitis senken. Überzeugend waren die Ergebnisse nicht.
Dreck ist gesund. Das behaupten seit einigen Jahren immer mehrere Allergieexperten. Die Hygienehypothese stützt sich auf die Beobachtung, dass Kinder in ländlichen Gebieten weniger Allergien entwickeln. Besonders stark ist der Schutz dann, wenn ihre Mutter die Schwangerschaft und ihr Kind das erste Lebensjahr auf einem Bauernhof verbracht hat. Viele Geschwister helfen auch gegen Heuschnupfen und andere Überempfindlichkeitssymptome. Schließlich sind Allergien in weniger entwickelten Saaten des Ostblocks oder auch in Afrika bedeutend seltener als bei uns. Hoftiere stärken das angeborene Immunsystem Aber welcher Dreck sorgt dafür, dass Mastzellen und IgE-Antikörper bei der Begegnung mit harmlosen Molekülen unserer Umwelt nicht mehr Großalarm in unserem Körper auslösen? Erika von Mutius, Forscherin am Haunerschen Kinderspital in München hat 2013 für ihre Arbeit einen der begehrtesten Wissenschaftspreise Deutschlands gewonnen. Der mit rund 2,5 Mio. Euro dotierte Leibniz-Preis soll in den nächsten Jahren mithelfen, diese Fragen zu beantworten. In einer ihrer Publikationen zusammen mit Roger Lauener beschrieb sie, dass Bauernhofkinder einen höheren Pegel des Toll-like-Rezeptors 2 (TLR2) besitzen, einer wichtigen Komponente des angeborenen Immunsystems. Er bindet an Mikroben, die starke Immunreaktionen auslösen. Auch andere Komponenten dieser Waffengattung des Immunsystems spielen eine Rolle. Der Kontakt der werdenden Mutter mit vielen verschiedenen Hoftieren schützt ihr Kind vor atopischer Dermatitis. Im Blut der Säuglinge finden sich mehr Moleküle der Immunrezeptoren TLR5 und -9. Frühe Antibiotika-Gabe fördert Allergien Lipopolysaccharide (LPS) sind Antigene gram-negativer Bakterien, die beim Tod und Zerfall ihrer Träger toxische Eigenschaften entwickeln. Der Kontakt mit genau diesen Molekülen senkt das Risiko von atopischen Reaktionen und auch von Asthma bei Kindern. Aber auch gram-positive Bakterien scheinen mit Mehrfachzuckern allergie-typische Ekzeme zu unterdrücken. Dagegen sind Kinder mit früher Antibiotika-Erfahrung mehr als andere allergiegefährdet. Im entsprechenden Mausmodell maßen die Forscher eine deutlich höhere IgE Konzentration und mehr basophile Granulozyten. Immer deutlicher wird, dass zumindest ein wichtiger Weg zur Regulation des Immunsystems über die Darmflora führt. Hier gibt es mehr Zellen des Immunsystems als anderswo. Tote Darmbakterien als Immunsystem-Booster? Bedeutet das, dass eine gezielte Steuerung der Mikrobengesellschaft im Verdauungssystem auch das Allergierisiko senken könnte? Eine große Studie zu Beantwortung dieser Frage publizierten Forscher der Berliner Charité im letzten Jahr im Journal of Allergy and Clinical Immunology. Über 10 Jahre hinweg beobachteten Susanne Lau und ihre Kollegen rund 600 Kinder, von denen die Hälfte zusätzlich zur normalen Säuglingsnahrung ein ungefährliches Bakterienlysat eines gram-negativen E.coli-Stamms sowie gram-positiven Enterokokken bekam. Alle Teilnehmer an der Studie, die vom Hersteller des Präparats zeitweise unterstützt wurde, hatten entweder ein oder zwei Elternteile, die an einer atopischen Dermatitis litten. Von der fünften Lebenswoche an bis zum Ende der siebten Woche bekam die Hälfte der Kinder bei dieser randomisierten Doppelblindstudie das Bakterienlysat. Bei dem seit einigen Jahren im Handel erhältlichen Präparat sind bisher keine ernsthaften schädlichen Nebenwirkungen bekannt. Während der Behandlungsphase und einem Follow-Up Zeitraum von drei Jahren registrierten die Studienärzte das Auftreten eines atopischen Ekzems bei ihren Sprösslingen. Größe der Allergie-Mitgift bestimmt Bakterien-Schutz Die erste Auswertung der Ergebnisse war für die Wissenschaftler ziemlich ernüchternd, denn beide Gruppen unterscheiden sich nicht signifikant in der Häufigkeit einer Allergie. Bei genauerem Hinsehen fiel den Forschern aber doch Interessantes auf. Denn in der Gruppe mit nur einem vorbelasteten Elternteil gab es deutliche Unterschiede zwischen Verum- und Kontroll-Kindern. Ohne den „Schutz“ der Bakterienantigene erkrankten bis zum Ende der Behandlung rund 20 Prozent der Kinder, mit dem Nahrungszusatz jedoch nur 10 Prozent. Das verminderte Risiko blieb jedoch auch über die nächsten Jahre bestehen. Besonders effektiv war die Gabe, wenn der Vater an einer Allergie litt. Aber warum wirkt das Präparat nicht, wenn beide Elternteile Allergiker sind? Möglicherweise, so spekulieren die Autoren, könnte genetische Hintergrund der Suszeptibilität bei zwei betroffenen Eltern zu groß für die Wirkung des Bakterienlysats sein. Wie die Autoren in der Diskussion der Ergebnisse auch einräumen, ist eine Analyse von Subgruppen bei einer Studie nicht unproblematisch. Sie birgt die Gefahr, aufgrund der willkürlichen Auswahl der Gruppen mit erwünschtem Effekt das Gesamtergebnis zu verfälschen. In diesem Fall war jedoch der Unterschied in der Wirkung des Präparats zwischen den Kindern mit ein bzw. zwei vorbelasteten Eltern so groß, dass er Anlass zu weiteren Untersuchungen gibt, wodurch diese signifikanten Unterschiede entstehen. Tierversuche haben dazu beigetragen, ein noch genaueres Bild über die Mechanismen dieser Allergie-Suppression zu entwerfen. Sarkis Mazmanian vom California Institute of Technology in Pasadena fand heraus, dass die bakteriellen Antigene über die vermehrte TLR2-Expression regulatorische T-Zellen aktivieren. Diese T-Zell-Spezies unterdrückt die typische allergische Reaktion mit Th2-Helferzellen. Eine Mutation bei TLR4, einem nahen Verwandten in dieser Rezeptor-Familie hat die gleiche Wirkung wie die Gabe von Antibiotika. Mazmanian verwendete für seine Versuche die gram-negative Spezies Bacteroides. Mit gram-positiven Lactobazillen in der Säuglingsnahrung bei Neugeborenen wollten finnische Forscher Ekzeme bei Kindern zu unterdrücken. Die Studie zeigte zwar beeindruckende Ergebnisse, konnte aber von deutschen Forschern nicht reproduziert werden. Noch im Jahr 2008 schloss ein Cochrane-Review aus zwölf Studien, "dass Probiotika wahrscheinlich keine effektive Therapie gegen Ekzeme sind." Zeitfenster für Allergen-Toleranz Wenn das Kind aber erst einmal in den Brunnen gefallen ist, tun sich möglicherweise auch nachträgliche Therapien schwer, die Darmflora in die gewünschte Richtung steuern. Ein "Science"-Paper aus dem letzten Jahr berichtete über das Immunsystem von Mäusen, die keimfrei aufgezogen wurden. Im Vergleich zu ihren Artgenossen mit unsteriler Nahrung besaßen diese Labortiere ungewöhnlich viele natürliche Killer-T-Zellen in Darm und Lunge. Ein Allergietest in der Lunge und auf eine entsprechende Entzündungsreaktion im Darm fiel wesentlich stärker als bei den Kontrollen aus. Vereinigte man beide Gruppen im (unsterilen) Käfig, besaßen zwar bald alle die gleiche Darmflora, die Neigung zur Allergie bei den „sauberen“ Mäusen verschwand jedoch nicht. Ob sich die Erkenntnisse aus diesen Tierversuchen direkt auf den Menschen übertragen lassen, ist ungewiss. Die Studie an der Charité liefert jedoch dazu wichtige Hinweise. Frühere Erkenntnisse mit dem verwendeten Bakterienlysat lassen auch eine Wirkung gegen Darmentzündungen erkennen. Weitere Studien sollen zeigen, ob die abgetöteten Darmbakterien auch andere Entzündungs- und Allergierisiken senken können, möglicherweise auch bei starker genetischer Vorbelastung, wenn beide Elternteile betroffen sind. Gesunder Mist Die typische allergische Reaktion vom Typ Th2 richtet sich vor allem gegen Parasiten, mit denen das angeborene Immunsystem allein nicht mehr fertig wird. Dabei helfen Antikörper vom Typ IgE und IgG1. Erstaunlich ähnlich sieht die Reaktion gegen Gifte und andere körperfremde Stoffe aus. Sie müssen so schnell wie möglich aus dem Körper heraus. Daher könnte das Immunsystem eine solche Sofortreaktion entwickelt haben, die sich ohne den Lernprozess im Säuglingsalter auch gegen harmlose Allergieauslöser richtet. Mit einer Kombination von Prä- und probiotischen Nahrungsmittelzusätzen könnte man diesem Lernprozess möglicherweise nachhelfen. Vielleicht aber noch besser, wenn auch etwas drastisch wirkt die Methode, die Detlev Ganten, ehemaliger Chef der Charité und Präsident des jährlich in Berlin stattfindenden World Heath Summit. In einem ZEIT-Interview empfiehlt: "Wozu ich uneingeschränkt raten kann, ist, Kinder unbeschwert auf dem Land auch mal im Dreck spielen zu lassen, das stärkt das Immunsystem. Wir kennen keine bessere Vorsorge gegen Allergien . Sollen sie barfuß durch den Misthaufen stapfen! Mir ist das auch bekommen."